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Eine und noch eine These zu Yi Yi

Das Magnum Opus des taiwanesischen Regisseurs Edward Yang heisst Yi Yi, was wörtlich nur “eins eins” bedeutet. Die Bedeutung des Titels liegt im Mandarin oder womöglich sogar im taiwanesischen Dialekt davon verborgen. Allein diese Differenzierung dürfte meine gründliche Unkenntnis des Chinesischen offengelegt haben. Jedenfalls scheint “Yi yi” ein feststehender Ausdruck zu sein, nur findet man online sehr verschiedene Erklärungen zu seiner Bedeutung. “Eine eins und eine zwei” ist die häufigste Übersetzung, nur klärt uns das nicht wirklich darüber auf, was denn damit gemeint ist. Eine andere Erklärung ist, dass es in die Richtung geht von “jeder einzeln” oder gar “jeder (für sich) allein”; dass der Titel also auf Lebenseinsamkeit hinweist. Im totalen Widerspruch dazu liest man aber auch, dass der Titel auf den fundamentalen Umstand hinweisen soll, dass wir Menschen in Gruppen leben. Und das zeigt sehr gut, worum es im Film geht: Ja, um eine Familie, also eine enge Gruppe von Menschen, aber auch um die Herausforderungen, auf die jedes einzelne Mitglied im Leben stösst.

Egal, was ich tue, und egal, wie viel Zeit vergeht, Yi Yi geht mir nicht aus dem Kopf. Immer wieder kehre ich zu dieser ambivalenten Atmosphäre des Nullerjahre-Taiwans zurück. Mit einer und einer anderen These zu Yi Yi möchte ich hier meiner Begeisterung etwas Platz geben:

 

1. Yang-Yang ist Edward Yangs Selbstportrait

 

Der achtjährige Yang-Yang erlebt vieles, was universell für Kinder ist oder zumindest typisch für ein taiwanesisches Kind jener Zeit. In der Schule trägt er die Taiwan-Flagge am Rucksack und wird vom übertrieben strengen Lehrer getriezt. Doch ganz speziell ist an ihm, dass er in der Handlung zu einem künstlerischem Programm findet: Er stellt ein Fotoalbum zusammen von den Hinterköpfen seiner Mitmenschen. Die Idee dahinter: den Leuten zeigen, was diese selber nicht sehen können. Das ist witzig, aber kann auch als schamlos-naive Form derselben Idee gesehen werden, die dem Film zugrundeliegt; oder gar dieselbe Idee, die der ganzen Bewegung des neuen taiwanesischen Kinos zugrundeliegt: dem Publikum den Alltag auf neue, erhellende Weise zu zeigen. Vielleicht so, dass man anhand alltäglicher Szenen zu fundamentalen existenziellen Fragen kommt – und vielleicht auch zu so etwas wie einer Antwort. Ein wenig ist das implizit der Anspruch jeder Alltagskunst wie etwa in der Alltagsdichtung von William Carlos Williams. Sehr konkret spricht das auch David Foster Wallace in seinem Text This is Water an, wenn er die Macht beschreibt, seinen Alltag aktiv anders zu denken.

 

Ist Yang-Yang aber womöglich mehr als nur ein Selbstporträt? Im Regiekommentar der DVD-Edition wird Edward Yang gefragt, ob Yang-Yang vielleicht einfach Edward Yangs Sicht auf Kunst wiedergibt, da er ja auch Yang heisse, worauf er grosszügig lacht – und dann doch nicht antwortet. Er sagt aber durchaus, dass er Yang-Yangs Fragen für menschlich universell hält. Zu diesem Stichpunkt der Universalität verweise ich auf die abschliessenden Zeilen des Films, und damit auch die abschliessenden Zeilen des künstlerischen Schaffens von Edward Yang:

 

Verzeih mir, Oma, ich wollte schon länger mit dir reden. Aber alles, was ich dir hätte sagen können, wusstest du sicher sowieso schon. Sonst hättest du nicht immer «Hör zu» zu mir gesagt.

Sie sagen alle, dass du weggegangen seist. Und du hast mir nicht mal gesagt, wohin. Sicher bist du an einem Ort, den ich deiner Ansicht nach kennen sollte. Aber Oma, ich weiss nur so wenig.

Weisst du, was ich machen will, wenn ich erwachsen bin? Ich will den Leuten Dinge erzählen, die sie nicht wissen. Ihnen Dinge zeigen, die sie noch nie gesehen haben. Das wäre prima! Vielleicht finde ich eines Tages heraus, wohin du gegangen bist. Wenn ich dich finde, darf ich es dann den anderen sagen? Darf ich sie dann mit zu dir bringen?

Oma – ich vermisse dich sehr. Vor allem, wenn ich meinen neugeborenen Cousin sehe, der immer noch keinen Namen hat. Er erinnert mich daran, wie du immer sagtest, dass du dich alt fühlst. Ich möchte ihm sagen, dass ich mich auch alt fühle.

 

Edward Yang trifft mit diesen wenigen Zeilen die menschliche Erfahrung schmerzhaft gut: “From the moment I could talk, I was ordered to listen” – das sang einst Cat Stevens und wird von Yang-Yang schön wiedergegeben. Daneben ist auch berührend, wie früh der Mensch schon nostalgisch sein und sich alt fühlen kann. Und wie er doch ein Leben lang wie ein tapsendes Kind ist: verwirrt, schwach und allein auf der Welt. Der Mensch weiss um seine Sterblichkeit, doch fühlt sich machtlos und alleingelassen ob dieser drohenden Wahrheit; etwas daraus machen kann er nicht. Edward Yang sieht eine Chance in der Kunst: Den Menschen anhand von realistischen und gleichzeitig aussergewöhnlichen Aufnahmen etwas über ihre eigene Existenz erzählen. Yang-Yangs Fotos sind Alltagsfotos, aber eben für seine Mitmenschen immer neu. Genau so möchte das naturalistische Kino Edward Yangs eine ästhetische Erfahrung aus dem ganz gewöhnlichen Alltag erschaffen.

 

Weiterführend kann man auch darüber nachdenken, ob der Film als Antwort gelesen werden kann auf Yang-Yangs Frage, wohin denn die Oma gegangen sei. Wenn der Film genau so “Dinge erzählt, die wir nicht wissen”, dann erklärt er uns womöglich den Tod. Sehr früh im Film verliert die Grossmutter das Bewusstsein und ist die Handlung des Films über in einem Koma. Wohin ist sie gegangen? Sie ist gestorben, klar. Aber findet sie sich nicht ein wenig in allen anderen Familienmitgliedern wieder? In Min-Mins Sinnkrise, in Yang-Yangs Suche nach Ausdruck, in Ting-Tings  Liebes-Schlamassel und NJs Krise zwischen Familie und vergangener Liebe? Und sehen wir vielleicht in ihrer Art, langsam die Welt zu verlassen, wie schnell dieselbe sich ändert? Schon naht der neue Cousin heran, schon kommen neue Technologien auf den Markt, ständig und stetig fahren Unmengen von Autos über die Strassen, in den Bürogebäuden brennt immerfort das Licht.

 

Eine Antwort auf diese Schnelligkeit des menschlichen Lebens könnte ebenfalls wieder die Kunst des Alltags sein.  Eine Figur erzählt, ihr Onkel habe gesagt, dass man dank Filmen zwei Mal länger lebt. Dass die Geschichten und neuen Perspektiven im Kino unser Leben also bereichern und dadurch gewissermassen verlängern. Vielleicht können sie es dadurch in unserer Wahrnehmung verlangsamen. Ich persönlich habe während meinem Studium knapp 2’000 Filme gesehen und kann durchaus bezeugen, dass sich die letzten 10 Jahre eher wie 30 Jahre angefühlt haben. Dieser Onkel der Filmfigur ist vermutlich wieder Edward Yang selbst und ich pflichte ihm absolut bei!

 

2. Die Wirkung des Films ist stärker geworden, indem aus seinem “Jetzt” ein “Damals” wurde

 

Ein Kommentator auf Letterboxd beschreibt “Yi Yi” als “The feeling of crying and not knowing why you’re crying put to film.”. Genau so fühlt sich die Kraft des Films an. Er ist eine ästhetische Darstellung des Sich-auf-sein-Leben-Besinnens inmitten des Trubels der taiwanesischen Gesellschaft. Aber eben nicht spezifisch nur in jener Gesellschaft, ich denke wir fühlen an verschiedenen Orten dieselbe Verwirrung über das Leben und dieselben nicht überwindbaren Sorgen über unsere Welt. Sie ist unmöglich riesig und unergründlich. Unsere Existenz darin überwältigend winzig. Darum filmt Edward Yang auch einmal vertikal nach oben, um uns Wolken zu zeigen. In so einem Shot vermengen sich die Grösse und Unergründlichkeit der Welt, ihre Vergänglichkeit, aber auch die Einzigartigkeit eines jeden Moments (die Grösse und Vergänglichkeit einer Wolke, aber eben auch ihre Einzigartigkeit); das ist natürlich kulturunabhängig, zumindest im Hinblick auf diese Assoziationen.

 

Ein Weg, durch den sich die Universalität des Films steigern wird, ist schlicht die Zeit selbst. Es erfüllt mich mit tiefem Staunen, wenn der Ultraschall des ungeborenen Kindes mit einem Monolog überlagert wird, in dem es um das neue Medium “Videospiel” geht. Videospiele gestierten seit etwa den Achtzigerjahren, um in den späten Neunzigern und Nullern endlich auch richtig selber leben zu können. Durch technischen Fortschritt aber auch grösserer kultureller Akzeptanz (und dadurch Finanzierung) wurden sie zum Ort der Träume und damit vergleichbar zur Literatur und zum Kino. Yi Yi spricht das in diesem wichtigen Moment an und altert dadurch enorm gut. Im Regiekommentar sagt Edward Yang, dass er die Entwicklung der Videospiele durchaus mit Sorge betrachtete und vergleicht das mit einem Kind, das bei der Geburt voller Potenzial ist, sich aber in eine unklare Zukunft entwickeln wird. Doch für mich als Kind der Videospiele wird Yi Yi dadurch mythisch: eine nostalgisch vernebelte Vorzeit, als die Videospiele noch nicht richtig präsent waren, als die Welt zwar noch anders war, aber doch schon im Begriff, zu unserer Welt zu werden. Dasselbe gilt für vieles mehr im Film, klein und gross: Die Qualität der Fotos, die Beschaffenheit der Bildschirme, die Mode, die Inneneinrichtung usw. Aber auch die bereits erwähnten Bürogebäude, die ununterbrochen beleuchtet werden, fahren mir total ein. Edward Yang sagt, dass diese Bürogebäude der erste intensive Eindruck von Japan war, den er dort hatte (im Film erscheinen sie in einem gleitenden Shot durch Tokio, als der Vater dort auf Geschäftsreise ist). Yang elaboriert nicht, wieso genau der Anblick der Bürogebäude für ihn so prägend war. Ich überlege für mich, dass ich womöglich so fest dranhänge, weil zweckloses Energieverbrauchen immer unüblicher wird und es gleichzeitig die hochgradig gefährliche Sorglosigkeit der vergangenen Jahrzehnte versinnbildlicht. Vielleicht ist es einfach nur schön.

 

Dennoch denke ich, dass die Wirkung von Yi Yi vom Altern weiterhin profitieren wird. Edward Yang meint, er wollte damals sein Leben in Taiwan für zukünftige Generationen erhalten – wer weiss, wie sehr sich das Leben dort noch verändern wird in diesem Jahrhundert. Der steigende Abstand zum Alltag im Film wurde also beim Filmen mitgedacht. Doch der Abstand steigert interessanterweise die Wirkung und Relevanz des Films: Wenn sich Menschen von vor 25 Jahren durch Sinnkrisen ihrer modernen Welt kämpften, so kommen wir beim Sehen erst recht in dieses Gefühl hinein. Die Welt ist seither nämlich nur grösser und schneller geworden, Yi Yi fühlt sich daneben wie eine heiter-langsame Vergangenheit an, in der es noch keine Smartphones und soziale Medien gab. Geschweige denn ultramächtige Sprachmodelle. Diese Distanz verstärkt erst Recht einen Gedanken, den ich bei Yi Yi immer spüre: Die grossen Momente im Leben äussern sich als vermeintlich triviale Gegenwärtigkeiten, die ständig verfliessen, ohne dass man es mitbekommt. Und so wie die Figuren von Yi Yi nicht sehen, wie nostalgisch schön ihre Welt ist, so sehen wir es in unserer vielleicht auch nicht. Also: genug ahnungslos geweint. Gehen wir raus und erleben unsere Gegenwart mal ein bisschen. Der nächste verregnete Herbstsonntag mit “Yi Yi” kommt bestimmt :’)

 

 

 

 

“Yi Yi” (2000): Das ganz Grosse im Alltäglichen

Das Magnum Opus des taiwanesischen Regisseurs Edward Yang heisst Yi Yi, was wörtlich nur “eins eins” bedeutet. Die Bedeutung des Titels liegt im Mandarin oder womöglich sogar im taiwanesischen Dialekt davon verborgen. Allein diese Differenzierung dürfte meine gründliche Unkenntnis des Chinesischen offengelegt haben. Jedenfalls scheint “Yi yi” ein feststehender Ausdruck zu sein, nur findet man online sehr verschiedene Erklärungen zu seiner Bedeutung. “Eine eins und eine zwei” ist die häufigste Übersetzung, nur klärt uns das nicht wirklich darüber auf, was denn damit gemeint ist. Eine andere Erklärung ist, dass es in die Richtung geht von “jeder einzeln” oder gar “jeder (für sich) allein”; dass der Titel also auf Lebenseinsamkeit hinweist. Im totalen Widerspruch dazu liest man aber auch, dass der Titel auf den fundamentalen Umstand hinweisen soll, dass wir Menschen in Gruppen leben. Und das zeigt sehr gut, worum es im Film geht: Ja, um eine Familie, also eine enge Gruppe von Menschen, aber auch um die Herausforderungen, auf die jedes einzelne Mitglied im Leben stösst.

Egal, was ich tue, und egal, wie viel Zeit vergeht, Yi Yi geht mir nicht aus dem Kopf. Immer wieder kehre ich zu dieser ambivalenten Atmosphäre des Nullerjahre-Taiwans zurück. Mit einer und einer anderen These zu Yi Yi möchte ich hier meiner Begeisterung etwas Platz geben:

 

1. Yang-Yang ist Edward Yangs Selbstportrait

 

Der achtjährige Yang-Yang erlebt vieles, was universell für Kinder ist oder zumindest typisch für ein taiwanesisches Kind jener Zeit. In der Schule trägt er die Taiwan-Flagge am Rucksack und wird vom übertrieben strengen Lehrer getriezt. Doch ganz speziell ist an ihm, dass er in der Handlung zu einem künstlerischem Programm findet: Er stellt ein Fotoalbum zusammen von den Hinterköpfen seiner Mitmenschen. Die Idee dahinter: den Leuten zeigen, was diese selber nicht sehen können. Das ist witzig, aber kann auch als schamlos-naive Form derselben Idee gesehen werden, die dem Film zugrundeliegt; oder gar dieselbe Idee, die der ganzen Bewegung des neuen taiwanesischen Kinos zugrundeliegt: dem Publikum den Alltag auf neue, erhellende Weise zu zeigen. Vielleicht so, dass man anhand alltäglicher Szenen zu fundamentalen existenziellen Fragen kommt – und vielleicht auch zu so etwas wie einer Antwort. Ein wenig ist das implizit der Anspruch jeder Alltagskunst wie etwa in der Alltagsdichtung von William Carlos Williams. Sehr konkret spricht das auch David Foster Wallace in seinem Text This is Water an, wenn er die Macht beschreibt, seinen Alltag aktiv anders zu denken.

 

Ist Yang-Yang aber womöglich mehr als nur ein Selbstporträt? Im Regiekommentar der DVD-Edition wird Edward Yang gefragt, ob Yang-Yang vielleicht einfach Edward Yangs Sicht auf Kunst wiedergibt, da er ja auch Yang heisse, worauf er grosszügig lacht – und dann doch nicht antwortet. Er sagt aber durchaus, dass er Yang-Yangs Fragen für menschlich universell hält. Zu diesem Stichpunkt der Universalität verweise ich auf die abschliessenden Zeilen des Films, und damit auch die abschliessenden Zeilen des künstlerischen Schaffens von Edward Yang:

 

Verzeih mir, Oma, ich wollte schon länger mit dir reden. Aber alles, was ich dir hätte sagen können, wusstest du sicher sowieso schon. Sonst hättest du nicht immer «Hör zu» zu mir gesagt.

Sie sagen alle, dass du weggegangen seist. Und du hast mir nicht mal gesagt, wohin. Sicher bist du an einem Ort, den ich deiner Ansicht nach kennen sollte. Aber Oma, ich weiss nur so wenig.

Weisst du, was ich machen will, wenn ich erwachsen bin? Ich will den Leuten Dinge erzählen, die sie nicht wissen. Ihnen Dinge zeigen, die sie noch nie gesehen haben. Das wäre prima! Vielleicht finde ich eines Tages heraus, wohin du gegangen bist. Wenn ich dich finde, darf ich es dann den anderen sagen? Darf ich sie dann mit zu dir bringen?

Oma – ich vermisse dich sehr. Vor allem, wenn ich meinen neugeborenen Cousin sehe, der immer noch keinen Namen hat. Er erinnert mich daran, wie du immer sagtest, dass du dich alt fühlst. Ich möchte ihm sagen, dass ich mich auch alt fühle.

 

Edward Yang trifft mit diesen wenigen Zeilen die menschliche Erfahrung schmerzhaft gut: “From the moment I could talk, I was ordered to listen” – das sang einst Cat Stevens und wird von Yang-Yang schön wiedergegeben. Daneben ist auch berührend, wie früh der Mensch schon nostalgisch sein und sich alt fühlen kann. Und wie er doch ein Leben lang wie ein tapsendes Kind ist: verwirrt, schwach und allein auf der Welt. Der Mensch weiss um seine Sterblichkeit, doch fühlt sich machtlos und alleingelassen ob dieser drohenden Wahrheit; etwas daraus machen kann er nicht. Edward Yang sieht eine Chance in der Kunst: Den Menschen anhand von realistischen und gleichzeitig aussergewöhnlichen Aufnahmen etwas über ihre eigene Existenz erzählen. Yang-Yangs Fotos sind Alltagsfotos, aber eben für seine Mitmenschen immer neu. Genau so möchte das naturalistische Kino Edward Yangs eine ästhetische Erfahrung aus dem ganz gewöhnlichen Alltag erschaffen.

 

Weiterführend kann man auch darüber nachdenken, ob der Film als Antwort gelesen werden kann auf Yang-Yangs Frage, wohin denn die Oma gegangen sei. Wenn der Film genau so “Dinge erzählt, die wir nicht wissen”, dann erklärt er uns womöglich den Tod. Sehr früh im Film verliert die Grossmutter das Bewusstsein und ist die Handlung des Films über in einem Koma. Wohin ist sie gegangen? Sie ist gestorben, klar. Aber findet sie sich nicht ein wenig in allen anderen Familienmitgliedern wieder? In Min-Mins Sinnkrise, in Yang-Yangs Suche nach Ausdruck, in Ting-Tings  Liebes-Schlamassel und NJs Krise zwischen Familie und vergangener Liebe? Und sehen wir vielleicht in ihrer Art, langsam die Welt zu verlassen, wie schnell dieselbe sich ändert? Schon naht der neue Cousin heran, schon kommen neue Technologien auf den Markt, ständig und stetig fahren Unmengen von Autos über die Strassen, in den Bürogebäuden brennt immerfort das Licht.

 

Eine Antwort auf diese Schnelligkeit des menschlichen Lebens könnte ebenfalls wieder die Kunst des Alltags sein.  Eine Figur erzählt, ihr Onkel habe gesagt, dass man dank Filmen zwei Mal länger lebt. Dass die Geschichten und neuen Perspektiven im Kino unser Leben also bereichern und dadurch gewissermassen verlängern. Vielleicht können sie es dadurch in unserer Wahrnehmung verlangsamen. Ich persönlich habe während meinem Studium knapp 2’000 Filme gesehen und kann durchaus bezeugen, dass sich die letzten 10 Jahre eher wie 30 Jahre angefühlt haben. Dieser Onkel der Filmfigur ist vermutlich wieder Edward Yang selbst und ich pflichte ihm absolut bei!

 

2. Die Wirkung des Films ist stärker geworden, indem aus seinem “Jetzt” ein “Damals” wurde

 

Ein Kommentator auf Letterboxd beschreibt “Yi Yi” als “The feeling of crying and not knowing why you’re crying put to film.”. Genau so fühlt sich die Kraft des Films an. Er ist eine ästhetische Darstellung des Sich-auf-sein-Leben-Besinnens inmitten des Trubels der taiwanesischen Gesellschaft. Aber eben nicht spezifisch nur in jener Gesellschaft, ich denke wir fühlen an verschiedenen Orten dieselbe Verwirrung über das Leben und dieselben nicht überwindbaren Sorgen über unsere Welt. Sie ist unmöglich riesig und unergründlich. Unsere Existenz darin überwältigend winzig. Darum filmt Edward Yang auch einmal vertikal nach oben, um uns Wolken zu zeigen. In so einem Shot vermengen sich die Grösse und Unergründlichkeit der Welt, ihre Vergänglichkeit, aber auch die Einzigartigkeit eines jeden Moments (die Grösse und Vergänglichkeit einer Wolke, aber eben auch ihre Einzigartigkeit); das ist natürlich kulturunabhängig, zumindest im Hinblick auf diese Assoziationen.

 

Ein Weg, durch den sich die Universalität des Films steigern wird, ist schlicht die Zeit selbst. Es erfüllt mich mit tiefem Staunen, wenn der Ultraschall des ungeborenen Kindes mit einem Monolog überlagert wird, in dem es um das neue Medium “Videospiel” geht. Videospiele gestierten seit etwa den Achtzigerjahren, um in den späten Neunzigern und Nullern endlich auch richtig selber leben zu können. Durch technischen Fortschritt aber auch grösserer kultureller Akzeptanz (und dadurch Finanzierung) wurden sie zum Ort der Träume und damit vergleichbar zur Literatur und zum Kino. Yi Yi spricht das in diesem wichtigen Moment an und altert dadurch enorm gut. Im Regiekommentar sagt Edward Yang, dass er die Entwicklung der Videospiele durchaus mit Sorge betrachtete und vergleicht das mit einem Kind, das bei der Geburt voller Potenzial ist, sich aber in eine unklare Zukunft entwickeln wird. Doch für mich als Kind der Videospiele wird Yi Yi dadurch mythisch: eine nostalgisch vernebelte Vorzeit, als die Videospiele noch nicht richtig präsent waren, als die Welt zwar noch anders war, aber doch schon im Begriff, zu unserer Welt zu werden. Dasselbe gilt für vieles mehr im Film, klein und gross: Die Qualität der Fotos, die Beschaffenheit der Bildschirme, die Mode, die Inneneinrichtung usw. Aber auch die bereits erwähnten Bürogebäude, die ununterbrochen beleuchtet werden, fahren mir total ein. Edward Yang sagt, dass diese Bürogebäude der erste intensive Eindruck von Japan war, den er dort hatte (im Film erscheinen sie in einem gleitenden Shot durch Tokio, als der Vater dort auf Geschäftsreise ist). Yang elaboriert nicht, wieso genau der Anblick der Bürogebäude für ihn so prägend war. Ich überlege für mich, dass ich womöglich so fest dranhänge, weil zweckloses Energieverbrauchen immer unüblicher wird und es gleichzeitig die hochgradig gefährliche Sorglosigkeit der vergangenen Jahrzehnte versinnbildlicht. Vielleicht ist es einfach nur schön.

 

Dennoch denke ich, dass die Wirkung von Yi Yi vom Altern weiterhin profitieren wird. Edward Yang meint, er wollte damals sein Leben in Taiwan für zukünftige Generationen erhalten – wer weiss, wie sehr sich das Leben dort noch verändern wird in diesem Jahrhundert. Der steigende Abstand zum Alltag im Film wurde also beim Filmen mitgedacht. Doch der Abstand steigert interessanterweise die Wirkung und Relevanz des Films: Wenn sich Menschen von vor 25 Jahren durch Sinnkrisen ihrer modernen Welt kämpften, so kommen wir beim Sehen erst recht in dieses Gefühl hinein. Die Welt ist seither nämlich nur grösser und schneller geworden, Yi Yi fühlt sich daneben wie eine heiter-langsame Vergangenheit an, in der es noch keine Smartphones und soziale Medien gab. Geschweige denn ultramächtige Sprachmodelle. Diese Distanz verstärkt erst Recht einen Gedanken, den ich bei Yi Yi immer spüre: Die grossen Momente im Leben äussern sich als vermeintlich triviale Gegenwärtigkeiten, die ständig verfliessen, ohne dass man es mitbekommt. Und so wie die Figuren von Yi Yi nicht sehen, wie nostalgisch schön ihre Welt ist, so sehen wir es in unserer vielleicht auch nicht. Also: genug ahnungslos geweint. Gehen wir raus und erleben unsere Gegenwart mal ein bisschen. Der nächste verregnete Herbstsonntag mit “Yi Yi” kommt bestimmt :’)

 

 

 

 

“Yi Yi” (2000): Das ganz Grosse im Alltäglichen