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THE BLOOD OF JESUS: Der puritanische Extremismus und Lingua Ignotas Noise-Musik

Die republikanische Provokateurin Lauren Boebert hat kürzlich zum Gebet aufgerufen, um dem US-Präsidenten Joe Biden den Tod zu wünschen. Nach der massiven Einschränkung der Rechte der Frauen und der drohenden Aushebelung der amerikanischen Demokratie ist klar, dass die aktuelle Generation der Republikaner radikale Töne anstimmt. In den letzten Jahrzehnten hat man über die affektierten und bisweilen kitschigen Glaubensbekundungen in den USA müde geschmunzelt. Ihr Hintergrund war stets die Vielzahl meist evangelischer Abspaltungen der Kirche, die auswanderten oder vertrieben wurden und seither ganz eigene Wege fernab des katholischen Dogmas gehen. Im Folgenden werden die extremen und politisch rechten Gemeinden dieser an sich heterogenen Masse als «Evangelikale» bezeichnet. Denn wie die eingangs erwähnten Beispiele zeigen, ziehen sie durchaus an einem gemeinsamen Strang und sind ähnlich radikal wie die Puritaner von Salem. Ihr Grad an Radikalisierung scheint auch ähnlich gefährlich geworden zu sein.

 

Die Krux ist dabei, dass das Christentum als vages Einheits-Ethos dient, um die radikal neoliberalen Interessen des rechten Randes der Republikaner zu vertreten. Dabei kommt es zu quasi-parodistischen Situationen: So etwa der Twitter-Account der jungen Reps, der Meinungen darüber hören will, welche Schusswaffe wohl der Favorit von Jesus gewesen wäre. Die ebenso parodistische Antwort, eine Nagelpistole, provoziert aber einen Wutausbruch. In einem politischen Meme vergleicht ein Republikaner seine zwei Vorbilder, Donald Trump und Jesus. Trump und Jesus hätten laut ihm gemeinsam, dass sie weiss und blauäugig seien, und beide eine Mutter namens «Mary» hätten. Dass diese Person die traditionell gewordenen Darstellungen von Jesus als Europäer für bare Münze nimmt, bringt den Missstand auf den Punkt: Nicht mehr die ursprünglichen Worte und komplexen Dogmata leiten diese «Christen», sondern ihre eigenen Hirngespinste. So  haben diese Ultrarechten auch selten etwas mit Jesus zu tun: Sie sind meist theologisch schwach und zugleich politisch rabiat; frauenfeindlich, queerfeindlich und nicht zuletzt hochgradig armenfeindlich.

 

Ein grossartiges und sehr relevantes Kunstwert dazu kam 2021 raus und trägt den ominösen Titel «SINNER GET READY» und stammt von der kalifornischen Noise-Künstlerin Lingua Ignota. Hinter dem auf Hildegard von Bingen basierenden Künstlernamen verbirgt sich die katholisch aufgewachsene Kristin Hayter. Sie wurde nach ihrem Kompositionsstudium als Lingua Ignota bekannt, indem sie das seelenzerrüttende Noise-Album «All Bitches Die» auf Soundcloud hochlud. Das folgende Album, «Caligula», produzierte sie professionell. Sie verbindet darin ihre eigenen religiösen Traumata mit der extremen häuslichen Gewalt, die sie von mindestens zwei Partnern erfuhr. Stilistisch lässt sich das Album beschreiben als düsterer Neo-Barock; wie wenn Henry Purcell ein Death-Metal-Album komponiert hätte. Mit den Einnahmen aus diesem Album zog sie aufs Land in Pennsylvania. Dort befasste sie sich mit den kleinen puritanischen Kirchengemeinden, für die der Bundesstaat bekannt ist; Gemeinden mit so biblisch klingenden Namen wie die «Ephrata Church of the Brethren». Viele der radikalsten Evangelikalen stammen aus Pennsylvania, so etwa auch die beiden Kriegsverbrecher von Abu-Ghraib. Waren Hayters frühere Projekte kakophonen Genres wie dem Deathmetal nahe, so lernte sie jetzt die Folkmusik der Appalachen zu benutzen. Nicht weniger bedrohlich und abgründig ist aber die Musik, um dem Sujet gerecht zu werden. Über Internet und Fernsehen recherchierte sie ausserdem zu Jimmy Swaggart, einem im Fernsehen steinreich gewordenen Hassprediger. Trotz radikal-rechten und ehern puritanischen Ansichten ging er mit mehreren Prostituierten fremd. Mit tränenverschmiertem Gesicht betete er öffentlich im Fernsehen, Jesus möge ihn mit seinem Blut davon reinwaschen.

 

«I am covered in the Blood of Jesus» ist eins der Hauptmotive im Album “SINNER GET READY”. Das ist nicht nur eine Anspielung an Swaggart, sondern auch ein eingespieltes Zitat einer Evangelikalen, die damit ihre angebliche Immunität gegen Covid begründet. So hanebüchen wie diese selbstüberhebende Aussage ist, so ernst wird sie von Kristin Hayter genommen. In «PERPETUAL FLAME OF CENTRALIA» singt sie diesen Satz mit empathischer Stimme, sodass man die beruhigende und kräftigende Wirkung dieser Metapher verspürt. Wenn sie weiter singt, dass sie das Gift der Schlange Edens innehat, so kann das als Identifikation mit der ewig sündigen Frau (Eva, Schlange, Lilit) verstanden werden. Es ist auch ein Hinweis auf den starken Gehalt alttestamentlicher Metaphern in der Sprache der Evangelikalen. Die ewige Flamme von Centralia ist aber nicht etwa eine biblische Geschichte, sondern ein realer Umstand in Pennsylvania. Eine Kohle-Mine unter einer Gemeinde namens Centralia entbrannte in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts und lässt seither dunklen Rauch aus der Erde quellen. Auch das ist eine unfreiwillige Anspielung an evangelikale Blut-und-Hölle-Rhetorik. Es veranschaulicht nämlich, dass ein grosses Problem des evangelikalen Christentums die Tendenz zum Konkretismus ist. Wie die Essayistin Aisling McCrea brillant beobachtet, ist das Problem an Evangelikalen, dass sie die Denkweise des Mythos missachten und nur in rationalem Logos denken. Rational sind ihre Haltungen per se nicht, sie sind vielmehr das Resultat einer wortwörtlichen, über-rationalen Interpretation mythischer Texte. So glauben sie etwa an die wortwörtliche Kreation der Welt vor ca. 6’000 Jahren. Darum passt es, dass in ihrem Land eine reale feuergefüllte Höhle existiert, deren Rauchschwaden man aus der Kirche heraus als Memento Mori betrachten kann.

 

Diese Konkretisierung religiöser Bilder macht sich Hayter zunutze im schaurigen Lied «I WHO BEND THE TALL GRASSES». Hier nimmt sie die Praxis des todeswünschenden Gebets zum Vorbild, um einem nicht weiter beschriebenen «he» grausame Strafe durch göttliche Hinrichtung zu wünschen. Die Sprache ist zugleich altertümlich («Glorious Father, intercede for me» beschwört sie) und erschreckend modern («I don’t give a fuck / Just kill him / You have to / I’m not asking» kreischt sie). Auch hier verdichtet sich das Persönliche mit dem Politischen. Natürlich warnt das Album vor christlich-fundamentalistischer Gewalt. Doch mit Hayters öffentlich gemachten Erfahrungen mit extremer häuslicher Gewalt ist ihr persönlicher Berührungspunkt mit diesen Versen deutlich zu erkennen. Wir verstehen, weshalb sich jemand nach einem grausam rächenden Vater sehnt: Er stellt eine blutige Egalität her («If I cannot hide from you / Neither can he»).

 

Die Komplexität religiös motivierter Gewalt ist aber nicht nur auf dieses Lied beschränkt. Das Album ist eine psychische Reise durch die unheilige Dreifaltigkeit der leidtragenden Frau, ihres Peinigers und des nicht-ganz-so-lieben evangelikalen Gottes. In «REPENT NOW CONFESS NOW» lagert Hayter ihre Stimme zu einem Chor, der mit exhortationshaftem und beschwörendem Gesang von Unterdrückung und körperlicher Strafe schwärmt. In «THE ORDER OF SPIRITUAL VIRGINS» triumphiert sie als «incessant» und «relentless» Gottheit, die mit ihren gehörzerberstenden Klavier-Fortissimos «eternal devotion» erzwingt. In «PERPETUAL FLAME OF CENTRALIA» identifiziert sich, womöglich in Anspielung an W.H. Auden, mit einem Hund, der einsam stirbt.

 

Warum soll man also ein Album hören, das abwechselnd religiös-fanatische Stimmen imitiert und uns mit schmerzhafter Kakophonie quält? Ich denke, die Antwort in der Welt von Lingua Ignota ist Empathie. Allen voran müssen wir Empathie für Opfer häuslicher Gewalt aufbringen. Wir können Empathie auch mit dem pervertierten Glauben der Evangelikalen aufbauen und dadurch verstehen, wieso die Gefahr eines christlichen Dschihadismus durchaus real ist. Wir können und müssen Empathie mit den Opfern solcher Sekten gewinnen. Die Gefühle von Schwäche und Überwältigung ob einer grausamen Welt führen zu den seelenheilenden Worten von Jesus. Dort werden sie von Hasspredigern zu evangelikalen Fundamentalismus pervertiert, und ihr Glaube hält sie von Abkehr ab. Und nicht zuletzt fragt das Album nach Empathie mit den falschen Anführern dieser Gemeinden. Jimmy Swaggarts tränenreiche Beichte ist zu hören, die unschwer als freche Lüge zu erkennen ist. Genauso hören wir ihn aber auch über seine verstorbene Mutter und ihre Lieblingskirchenlieder reden. Er klingt da tatsächlich sehr genuin. Womöglich liebt er seinen Glauben wirklich und schlachtet ihn nicht nur fürs grosse Geld aus. Womöglich ist er in einem teuflischen Kreislauf aus, für ihn, sündigem Verhalten und radikaler Selbstentsagung und Selbstkasteiung gefangen. So sollte niemand leben müssen. Wie Lingua Ignota es in den abschliessenden Versen vormacht, sollten wir mit unseren Imperfektionen Frieden finden: «No longer shall I wander / Ugliness my home / Loneliness my master / I bow to him alone»

Selbst-Porträt von Kristin Hayter alias Lingua Ignota, Teil ihres Projekts “Caligula”

 

Die republikanische Provokateurin Lauren Boebert hat kürzlich zum Gebet aufgerufen, um dem US-Präsidenten Joe Biden den Tod zu wünschen. Nach der massiven Einschränkung der Rechte der Frauen und der drohenden Aushebelung der amerikanischen Demokratie ist klar, dass die aktuelle Generation der Republikaner radikale Töne anstimmt. In den letzten Jahrzehnten hat man über die affektierten und bisweilen kitschigen Glaubensbekundungen in den USA müde geschmunzelt. Ihr Hintergrund war stets die Vielzahl meist evangelischer Abspaltungen der Kirche, die auswanderten oder vertrieben wurden und seither ganz eigene Wege fernab des katholischen Dogmas gehen. Im Folgenden werden die extremen und politisch rechten Gemeinden dieser an sich heterogenen Masse als «Evangelikale» bezeichnet. Denn wie die eingangs erwähnten Beispiele zeigen, ziehen sie durchaus an einem gemeinsamen Strang und sind ähnlich radikal wie die Puritaner von Salem. Ihr Grad an Radikalisierung scheint auch ähnlich gefährlich geworden zu sein.

 

Die Krux ist dabei, dass das Christentum als vages Einheits-Ethos dient, um die radikal neoliberalen Interessen des rechten Randes der Republikaner zu vertreten. Dabei kommt es zu quasi-parodistischen Situationen: So etwa der Twitter-Account der jungen Reps, der Meinungen darüber hören will, welche Schusswaffe wohl der Favorit von Jesus gewesen wäre. Die ebenso parodistische Antwort, eine Nagelpistole, provoziert aber einen Wutausbruch. In einem politischen Meme vergleicht ein Republikaner seine zwei Vorbilder, Donald Trump und Jesus. Trump und Jesus hätten laut ihm gemeinsam, dass sie weiss und blauäugig seien, und beide eine Mutter namens «Mary» hätten. Dass diese Person die traditionell gewordenen Darstellungen von Jesus als Europäer für bare Münze nimmt, bringt den Missstand auf den Punkt: Nicht mehr die ursprünglichen Worte und komplexen Dogmata leiten diese «Christen», sondern ihre eigenen Hirngespinste. So  haben diese Ultrarechten auch selten etwas mit Jesus zu tun: Sie sind meist theologisch schwach und zugleich politisch rabiat; frauenfeindlich, queerfeindlich und nicht zuletzt hochgradig armenfeindlich.

 

Ein grossartiges und sehr relevantes Kunstwert dazu kam 2021 raus und trägt den ominösen Titel «SINNER GET READY» und stammt von der kalifornischen Noise-Künstlerin Lingua Ignota. Hinter dem auf Hildegard von Bingen basierenden Künstlernamen verbirgt sich die katholisch aufgewachsene Kristin Hayter. Sie wurde nach ihrem Kompositionsstudium als Lingua Ignota bekannt, indem sie das seelenzerrüttende Noise-Album «All Bitches Die» auf Soundcloud hochlud. Das folgende Album, «Caligula», produzierte sie professionell. Sie verbindet darin ihre eigenen religiösen Traumata mit der extremen häuslichen Gewalt, die sie von mindestens zwei Partnern erfuhr. Stilistisch lässt sich das Album beschreiben als düsterer Neo-Barock; wie wenn Henry Purcell ein Death-Metal-Album komponiert hätte. Mit den Einnahmen aus diesem Album zog sie aufs Land in Pennsylvania. Dort befasste sie sich mit den kleinen puritanischen Kirchengemeinden, für die der Bundesstaat bekannt ist; Gemeinden mit so biblisch klingenden Namen wie die «Ephrata Church of the Brethren». Viele der radikalsten Evangelikalen stammen aus Pennsylvania, so etwa auch die beiden Kriegsverbrecher von Abu-Ghraib. Waren Hayters frühere Projekte kakophonen Genres wie dem Deathmetal nahe, so lernte sie jetzt die Folkmusik der Appalachen zu benutzen. Nicht weniger bedrohlich und abgründig ist aber die Musik, um dem Sujet gerecht zu werden. Über Internet und Fernsehen recherchierte sie ausserdem zu Jimmy Swaggart, einem im Fernsehen steinreich gewordenen Hassprediger. Trotz radikal-rechten und ehern puritanischen Ansichten ging er mit mehreren Prostituierten fremd. Mit tränenverschmiertem Gesicht betete er öffentlich im Fernsehen, Jesus möge ihn mit seinem Blut davon reinwaschen.

 

«I am covered in the Blood of Jesus» ist eins der Hauptmotive im Album “SINNER GET READY”. Das ist nicht nur eine Anspielung an Swaggart, sondern auch ein eingespieltes Zitat einer Evangelikalen, die damit ihre angebliche Immunität gegen Covid begründet. So hanebüchen wie diese selbstüberhebende Aussage ist, so ernst wird sie von Kristin Hayter genommen. In «PERPETUAL FLAME OF CENTRALIA» singt sie diesen Satz mit empathischer Stimme, sodass man die beruhigende und kräftigende Wirkung dieser Metapher verspürt. Wenn sie weiter singt, dass sie das Gift der Schlange Edens innehat, so kann das als Identifikation mit der ewig sündigen Frau (Eva, Schlange, Lilit) verstanden werden. Es ist auch ein Hinweis auf den starken Gehalt alttestamentlicher Metaphern in der Sprache der Evangelikalen. Die ewige Flamme von Centralia ist aber nicht etwa eine biblische Geschichte, sondern ein realer Umstand in Pennsylvania. Eine Kohle-Mine unter einer Gemeinde namens Centralia entbrannte in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts und lässt seither dunklen Rauch aus der Erde quellen. Auch das ist eine unfreiwillige Anspielung an evangelikale Blut-und-Hölle-Rhetorik. Es veranschaulicht nämlich, dass ein grosses Problem des evangelikalen Christentums die Tendenz zum Konkretismus ist. Wie die Essayistin Aisling McCrea brillant beobachtet, ist das Problem an Evangelikalen, dass sie die Denkweise des Mythos missachten und nur in rationalem Logos denken. Rational sind ihre Haltungen per se nicht, sie sind vielmehr das Resultat einer wortwörtlichen, über-rationalen Interpretation mythischer Texte. So glauben sie etwa an die wortwörtliche Kreation der Welt vor ca. 6’000 Jahren. Darum passt es, dass in ihrem Land eine reale feuergefüllte Höhle existiert, deren Rauchschwaden man aus der Kirche heraus als Memento Mori betrachten kann.

 

Diese Konkretisierung religiöser Bilder macht sich Hayter zunutze im schaurigen Lied «I WHO BEND THE TALL GRASSES». Hier nimmt sie die Praxis des todeswünschenden Gebets zum Vorbild, um einem nicht weiter beschriebenen «he» grausame Strafe durch göttliche Hinrichtung zu wünschen. Die Sprache ist zugleich altertümlich («Glorious Father, intercede for me» beschwört sie) und erschreckend modern («I don’t give a fuck / Just kill him / You have to / I’m not asking» kreischt sie). Auch hier verdichtet sich das Persönliche mit dem Politischen. Natürlich warnt das Album vor christlich-fundamentalistischer Gewalt. Doch mit Hayters öffentlich gemachten Erfahrungen mit extremer häuslicher Gewalt ist ihr persönlicher Berührungspunkt mit diesen Versen deutlich zu erkennen. Wir verstehen, weshalb sich jemand nach einem grausam rächenden Vater sehnt: Er stellt eine blutige Egalität her («If I cannot hide from you / Neither can he»).

 

Die Komplexität religiös motivierter Gewalt ist aber nicht nur auf dieses Lied beschränkt. Das Album ist eine psychische Reise durch die unheilige Dreifaltigkeit der leidtragenden Frau, ihres Peinigers und des nicht-ganz-so-lieben evangelikalen Gottes. In «REPENT NOW CONFESS NOW» lagert Hayter ihre Stimme zu einem Chor, der mit exhortationshaftem und beschwörendem Gesang von Unterdrückung und körperlicher Strafe schwärmt. In «THE ORDER OF SPIRITUAL VIRGINS» triumphiert sie als «incessant» und «relentless» Gottheit, die mit ihren gehörzerberstenden Klavier-Fortissimos «eternal devotion» erzwingt. In «PERPETUAL FLAME OF CENTRALIA» identifiziert sich, womöglich in Anspielung an W.H. Auden, mit einem Hund, der einsam stirbt.

 

Warum soll man also ein Album hören, das abwechselnd religiös-fanatische Stimmen imitiert und uns mit schmerzhafter Kakophonie quält? Ich denke, die Antwort in der Welt von Lingua Ignota ist Empathie. Allen voran müssen wir Empathie für Opfer häuslicher Gewalt aufbringen. Wir können Empathie auch mit dem pervertierten Glauben der Evangelikalen aufbauen und dadurch verstehen, wieso die Gefahr eines christlichen Dschihadismus durchaus real ist. Wir können und müssen Empathie mit den Opfern solcher Sekten gewinnen. Die Gefühle von Schwäche und Überwältigung ob einer grausamen Welt führen zu den seelenheilenden Worten von Jesus. Dort werden sie von Hasspredigern zu evangelikalen Fundamentalismus pervertiert, und ihr Glaube hält sie von Abkehr ab. Und nicht zuletzt fragt das Album nach Empathie mit den falschen Anführern dieser Gemeinden. Jimmy Swaggarts tränenreiche Beichte ist zu hören, die unschwer als freche Lüge zu erkennen ist. Genauso hören wir ihn aber auch über seine verstorbene Mutter und ihre Lieblingskirchenlieder reden. Er klingt da tatsächlich sehr genuin. Womöglich liebt er seinen Glauben wirklich und schlachtet ihn nicht nur fürs grosse Geld aus. Womöglich ist er in einem teuflischen Kreislauf aus, für ihn, sündigem Verhalten und radikaler Selbstentsagung und Selbstkasteiung gefangen. So sollte niemand leben müssen. Wie Lingua Ignota es in den abschliessenden Versen vormacht, sollten wir mit unseren Imperfektionen Frieden finden: «No longer shall I wander / Ugliness my home / Loneliness my master / I bow to him alone»

Selbst-Porträt von Kristin Hayter alias Lingua Ignota, Teil ihres Projekts “Caligula”