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Kurzgeschichte: Der Unbekannte aus der Plattenstrasse

In Gedenken an Walter Kölliker und Else Lasker-Schüler.

 

Die schmucke alte Plattenstrasse in Zürich verbindet Teile der Universität, anonyme Einzimmerwohnungen und eine Rudolf-Steiner-Schule. Sie befindet sich unweit der kantonalen Gymnasien auf der einen Seite und des illustren Friedhofs Fluntern auf der andern, welcher wiederum in Gehdistanz zum Zoo und zur FIFA liegt. Elias Canetti ging in der Freiestrasse, parallel zur Plattenstrasse gelegen, in die Kantonsschule und liegt nun selbst im Friedhof Fluntern begraben, zwei oder drei Gräber neben James Joyce. Rosa Luxemburg und Robert Oppenheimer haben zeitweise ebenfalls mal hier gewohnt. Inmitten dieser illustren Märchenlandschaft wichtiger Persönlichkeiten und Institutionen, da hause jetzt ich, in der Mitte der Plattenstrasse, und gehe ab und an vor die Tür, meinen bestellten Fastfood abzuholen. Wer ich bin, ist nicht wichtig; auch nicht, wie ich genau heisse. Dem Lieferdienst gegenüber habe ich mich als Aron Bischoff ausgegeben. Das aber ist nicht mein eigentlicher Name. Vielmehr hat es die Hausverwaltung schon monatelang versäumt, die Beschriftung am Klingelbrett anzupassen. Monate schon wohne ich hier unter falschem Namen. Mittlerweile ist immerhin meine Küche eingerichtet worden. Ich könnte jetzt also selber kochen, aber das möchte ich nicht. Damit mein Essen mich findet, muss also ein Mensch den im System angezeigten Namen mit dem Namen auf meiner Klingel irgendwie verbinden. Auf ebendieser Klingel steht «A. Bischoff», also bin ich jetzt für den Lieferdienst Aron Bischoff. Die Essenslieferanten interessiert das nicht, selbst wenn ich sie mit dieser Anekdote von ihrem marternden Job für wenige Minuten abhalten würde. Ich erleichtere aber ihr emsiges Schaffen, indem ich mit Minuten an Vorsprung hinunterschleiche und mich draussen vor der Haustüre geduldig wartend positioniere. So brauchen sie nicht erst meinen falschen Namen auf der Klingel zu suchen, ich lüge sie einfach direkt an.

«Aron Bischoff?», «Yep genau, danke, schöne Abig no!», könnte ein Austausch lauten, oder ich begrüsse sie direkt mit meinem Nom de Guerre «Bischoff, Aron!» und nehme Herrn Bischoffs Mahlzeit entgegen.

 

Eines Tages also entschliesse ich mich, wieder mal mein Essen bringen zu lassen und zwar am frühen Nachmittag. Lange geschlafen, nur koffeiniert, aber nicht genährt, dem Kochen nicht zugeneigt, habe ich einfach Lust darauf verspürt und eine umfangreiche Bestellung bei der Lieferbude meines Vertrauens aufgegeben. Denn umfangreich macht zu dieser Tageszeit besonders viel Sinn: Die Bestellung kann als eine Art Brunch meinen Morgenhunger stillen und zugleich als Mittagessen dienen; und – das ist der Clou – für den Abend kann ich ja jetzt auch schon vorsorgen. So spare ich mir einen ganzen Tag des Kochens. Astrein bleibt die Küche, das gefällt.

 

Ich erwarte also jene Tagesration und prüfe regelmässig auf meinem Telefon, wann ich die Lieferung unten abfangen kann. Und da werde ich doch glatt urplötzlich von meiner Klingel aufgeschreckt, als sie viel zu früh mehrmals schellt. Ich eile zur Pforte hinunter, möchte den tüchtigen Lieferanten ja nicht warten lassen. Doch unten wartet kein Lieferant, kein Essen, sondern nur eine alltäglich gekleidete Frau. Meinen neugierigen, nach Essen Ausschau haltenden Blick, den ich im Näherkommen auf sie gerichtet hatte, bemerkt sie und spricht mich freundlich an. Ob ich den Herrn Bischoff kenne, fragt sie mich. Sie muss es also gewesen sein, die mich da heruntergeklingelt hat. Doch ohne Essen sehe ich keinen Anlass, unnötig zu lügen. Ausserdem will ich sie nicht mit Erklärungen zu meinem Ess- und Bestellverhalten behelligen. Ich entscheide mich also diesmal für die Wahrheit.

Dass hier einst einer namens Bischoff gewohnt habe, so viel wisse ich, entgegne ich. Der Frau weiten sich die Augen und sofort fragt sie drauf los. Wie denn dieser Herr Bischoff geheissen habe, ob nicht zufällig Aron Bischoff um genau zu sein, wann er denn hier gewohnt habe, woher ich von ihm wisse und ob ich mir denn ganz gewiss sicher sei. Ich erhoffte mir bei meinen hastigen Antworten darauf einzig, dass mein Essen nicht allzu bald komme; dass ich die Frau abspeisen könne, bevor der ahnungslose Essenslieferant die Situation gänzlich ins Absurde stürzen würde. Also gab ich hastig zurück, der Bischoff habe tatsächlich Aron geheissen, habe vor ungewisser Zeit hier gewohnt, davon wisse ich von meinem Vermieter und die Gewissheit der Auskunft beruhe einzig auf seinem Wort; ich selber wisse von nichts – und sei mir auch keiner Schuld bewusst, hätte ich fast hinzugefügt. Bei der Bestätigung des Namens «Aron» wurde die Frau geradezu ekstatisch und notierte sich alles eilig in einen Notizblock und erfragte enthusiastisch den Kontakt meines Vermieters.

 

Da nahte zu meinem Schreck in orangenem Aufzug der Lieferant auf einem Fahrrad – oder Velo, wie es hierzulande genannt wird. Ich diktierte in abgelenkter Hast die Telefonnummer meines Vermieters und beobachtete gehetzt, wie der Lieferant unschuldig sein Velo an einem Fahrradständer abstellte. Ich tat abgelenkt, damit mich dieser nicht nach meinem Namen fragen würde. Denn dann hätte ich die Wahl gehabt zwischen der Nennung meines Schwindelnamens, für den sich diese Frau seltsamerweise interessierte, oder meinem Essen, auf das ich nicht verzichten und für dessen gescheiterte Annahme ich später vom Lieferdienst nicht gerügt werden wollte. Zu meinem Lieferdienst hege ich die sonnigste Beziehung; ich würde mich im Leben nicht trauen, meine Nährmutter dergestalt zu verärgern. Ich war also schon bei den letzten zwei Ziffern der Telefonnummer angelangt, welche die Frau wegen Dialekt-Inkompatibilitäten zwischen uns mehrmals falsch verstand. Der Lieferant hatte in einiger Entfernung bereits die vielen Tüten und Essenskartons aus seinem quadratischen Rucksack gehievt und zückte sein Telefon, um die persönlichen Details des Bestellers nachzusehen. Nervös wippte ich auf der Stelle hin und her, in der Hoffnung, die Frau möge sich zügig entfernen. Doch die Unselige! Sie musterte die Klingelknöpfe und klingelte doch tatsächlich schon wieder an meiner, also an Aron Bischoffs, Klingel. Damit sie ja auch bald gehe, klärte ich sie auf, dass die Wohnung vermutlich leerstehe, noch nie habe ich den Bischoff gesehen, ja wirklich, das sage jeder hier, ja ja, es sei komisch, aber da werde sicher niemand kommen, wie leid mir das tue, das sei alles, was ich wisse, ja bitte sehr, sehr gerne, gleichfalls einen schönen Tag, tschüss!

Während dieser hastigen Unterhaltung hatte sich die Frau weggedreht und ihren Notizzettel in ihre Handtasche gleiten lassen. Hinter ihrem Rücken ging der orangen gekleidete Lieferant an das gerade eben freigewordene Klingelbrett, um, wo sonst, an Aron Bischoffs, also an meiner, Klingel zu läuten. Hätte die Frau das gesehen, ich wäre verloren gewesen!

Ich ging proaktiv auf den Lieferanten zu und rief «Ja, isch für mich!» und übertönte seine namennennende Gegenfrage mit lautem Danksagen und guten Wünschen, damit der vermaledeite Name ja auch nicht hörbar falle, den die Frau womöglich noch hätte aufschnappen können.

 

Problemlos ging die Transaktion vonstatten. Der Schwindel blieb unentdeckt und ich war für den Tag nahrungstechnisch versorgt. Erst nachdem ich das Fresspaket in meine Wohnung gebracht und dort zur Nervenlinderung gesamthaft verschlungen hatte und sich langsam ein komatöser Mittagsschlaf ankündigte, fragte ich mich, weshalb die Frau diesen Aron Bischoff eigentlich suchte. Den Namen schien sie zu kennen, einschliesslich dem Vornamen, der so an meiner Klingel nicht stand und eigentlich ein Geheimnis zwischen mir und dem Lieferdienst war. Doch mit diesem Lieferdienst hatte sie ja augenscheinlich nichts zu tun, sie wusste dennoch genau, in die Plattenstrasse und vor mein Gebäude zu kommen. Aron Bischoff wohnte durchaus an meiner Adresse und sie hatte bereits nichtsahnend mit ihm, nämlich mit mir, geredet. Was auch immer sie bezüglich der Causa Bischoff im Schilde führte, ich würde wohl kaum als Ersatz herhalten können. Nun trat langsam wirklich das Nahrungskoma ein und im Eindösen begriffen dachte ich schmunzelnd: «Macht nichts, ich kann ja auch einfach Aron Bischoff sein.»

 

 

Anderntags, ich hatte mich ausnahmsweise selber mit Nahrung versorgt, schellte um die späte Mittagszeit meine Klingel. Ausser Lieferanten klingelt jedoch niemand jemals an meiner Tür, mit Ausnahme der rätselhaften Frau von letztens. Als ich mich darauf in Windeseile kleidete – das war zu jener Tageszeit noch nicht gänzlich geschehen und musste jetzt in aller Hast nachgeholt werden – kam mir ebendiese Frau wieder in den Sinn, die sich so für Aron Bischoff interessiert hatte. War es jetzt an der Zeit, mich der Verwechslung zu stellen?

 

Vor der Türe erschrak ich nicht wenig, als ich ein wohlbekanntes Wappen auf blauem Hintergrund auf der Kleidung der Leute erspähte, die bereits vier Mal geklingelt hatten und gerade zu einem fünften oder gar sechsten Klingeln ansetzten, als ich ihnen endlich am Gebäudeeingang entgegenhechelte. Die alltäglich gekleidete Frau von letztens war nicht unter den Leuten, die da auf mich warteten. Nein, es waren zwei durchaus autoritär gekleidete Gestalten. Diese waren aber nicht von der Polizei, nein, es war noch viel schlimmer: Es waren Beamte der kantonalen Verwaltung! Was wollte mir die Verwaltung da an den Kragen? War etwa mein Namensschwindel irgendwie hoch oben aufgefallen? Drohten mir jetzt wütende Briefe, unangenehme Telefonate oder gar eine persönliche Vorladung?

 

Zu allem Unglück begann unser Gespräch schon höchst bedrohlich: «Aron Bischoff?», fragte mich eine der beiden. Sie sah aus wie eine engagierte Beamtin, die den Verwaltungsapparat mit einer kühlen Schärfe in den Augen beeindruckend verkörperte. Auf meinen verdatterten Gesichtsausdruck hin sagte sie, was wohl erklärend und beruhigend wirken sollte, sie selber heisse Helen und sei vom Staatsarchiv entsandt. Aber was sollte ich jetzt antworten? Sie hatten ja offensichtlich auf den Klingelknopf mit der Aufschrift «A. Bischoff» gedrückt und ich war erschienen, das wurde mir gerade jetzt erst so richtig bewusst. Tatsächlich kam Helen, nachdem sie sich selbst und ihren Kollegen, S. Steppacher, namentlich vorgestellt hatte, zu ihrer ursprünglichen Frage zurück. Doch glücklicherweise kam sie mir diesmal entscheidend entgegen: «Wir haben von der Verwaltung den Hinweis bekommen, dass hier Aron Bischoff wohnen soll. Aber ich nehme mal an, das sind nicht Sie, oder?»

Ja, gut, das ist natürlich nett, dass sie mir diese Möglichkeit direkt anbietet. «Nein, natürlich nicht!», gebe ich süffisant kichernd zurück. «Ja eben!», reagiert die Frau sofort. Die Sache sei aber, erklärt sie eifrig, dass sie schon länger nach der Adresse von Aron Bischoff suchten. Das Einwohnermeldeamt habe ihnen den Hinweis gegeben, hier habe Aron Bischoff gewohnt, diese Information sei erst kürzlich in ihre Datenbank gekommen. Auf ihre Anfrage habe mein Vermieter jedoch angegeben, die Person A. Bischoff habe nicht Aron geheissen, sondern ganz anders; er sei sich jetzt nicht sicher, die Wohnung habe ja schon so lange leergestanden und das mit den Klingeln mache ja eigentlich seine Frau. Die Frau sei aber aktuell in Indien und so weiter. Wie genau der Name Bischoff mit ausgerechnet diesem Vornamen Aron in die Datenbank kam, das sei allen Involvierten schleierhaft. Eine andere Person namens A. Bischoff habe sich bereits einmal an- und wieder abgemeldet, doch irgendwie kam für dieselbe Adresse kürzlich der Name Aron Bischoff dazu, jedoch ohne Datumsangabe einer Ab- oder Anmeldung, niemand wisse, wieso. Auch ich, schliesse ich Helens Erklärung ab, habe leider nichts mit irgendeinem Menschen namens Bischoff zu tun. Eine sichtliche Ernüchterung machte sich in Helens Gesicht breit. Fast als würde sie mich anflehen, erklärte sie mir, beim Staatsarchiv habe man beim Eingang dieser mysteriösen neuen Information gehofft, wenigstens Familienangehörige, persönliche Bekannte oder irgendeine nähere Information zu Aron Bischoff hier zu entdecken. Irgendjemand hat in irgendein System genau diesen Namen eingetragen, das könne doch wohl kein Zufall sein! Es sei die einzige Spur, die es jemals zu Aron Bischoff gegeben habe!

 

Langsam dämmerte mir, dass das Einwohnermeldeamt wohl die Kundendaten von Lieferdiensten in die eigenen Systeme speisen könnte, um möglicherweise Hinweise auf gesuchte Personen finden zu können. Man stelle sich vor, jemand gibt eine falsche Wohnadresse in einem steuerlich günstigen Wohnort an, um teure Steuern zu umgehen, und gibt gegenüber dem Lieferdienst aber offen zu, eigentlich ständig im teuren Quartier zu hausen und eben zu speisen. Lieferdienste kennen beinahe intime Details über unser Leben, weil sie uns in diesen sehr verletzlichen Momenten begegnen, nämlich in den Momenten unseres Hungers. Und so könnte es sein, dass mein unschuldiger Namensschwindel in eine kantonale Datenbank übergewandert ist und von dort eine Kaskade von Benachrichtigungen und Alarmen ausgelöst hat, die schlussendlich Helen und Herrn Steppacher vor meine Haustür gebracht haben.

 

Fast wollte ich diesen aberwitzigen, doch nicht gänzlich unmöglichen Grund für das Missverständnis preisgeben, als ich einhielt. Noch wusste ich ja nicht, weswegen sich die beiden Archivare für Aron Bischoff interessierten. Also fragte ich vorsichtig danach und wollte erst dann entscheiden, wie viel ich tatsächlich preisgeben würde.

“Achso, ja, das ist schnell erklärt”, meinte Herr Steppacher und schilderte die Lage: Aron Bischoff gehöre zu einer kurzen Liste von Namen, welche als Holocaustopfer bekannt seien, deren Adresse zu Lebzeiten man aber noch nicht habe ausfindig machen können. Beim Stichpunkt «Holocaust» fahre ich zusammen. So eine tonnenschwere Assoziation ist mir jetzt unheimlich peinlich; wie um alles in der Welt könnte ich jetzt noch von meiner Lieferdienstlist erzählen? Das würde mich jetzt völlig entwürdigen und meinen Fastfood-Pragmatismus gänzlich geschmacklos dastehen lassen. Und die Frau und der Herr vom Staatsarchiv würden das wohl auch noch archivieren und so würde mein Name in die Nachwelt eingehen als einer, der sich bei Dönerbuden als Holocaustopfer ausgegeben hat. Wehe mir!

 

Weiter, erzählte die Frau, wäre genau die Plattenstrasse eine plausible Adresse vom tatsächlichen Aron Bischoff gewesen. Statt einer eindeutigen Adresse sei in den Quellen nur «Platte» angegeben worden, was eine Bezeichnung für die Umgebung rund um die Plattenstrasse ist. Man wisse zusätzlich auch, dass der Bischoff eine der hiesigen Kantonsschulen besucht und unweit von hier Kunst studiert hat. So stehe es in einem überlieferten Verhörprotokoll der Kantonspolizei. Das erwähnte Kunststudium könne an der Universität gewesen sein oder aber eine Ausbildung im Kunsthaus weiter unten, fügt Helens Kollege hinzu. Doch kein archiviertes Verzeichnis dieser beiden Institutionen kennt einen Aron Bischoff, noch gibt es eine Geburtsurkunde oder irgend einen sonstigen Registereintrag zu diesem Namen.

 

Ehe ich die logische Konsequenz dieser Zusammenhänge gänzlich begriffen hatte, kommt mir die Archivarin zuvor: «Aron Bischoff war also ein Deckname. Das ist deshalb plausibel, weil er in verschiedenen linken Organisationen aktiv war und darum wohl seine wahre Identität verstecken musste. Nur die Polizeiarchive, im In- und Ausland, kennen diesen Namen. Seine Verfolgung, Inhaftierung und schlussendliche Ermordung, diese Ereignisse sind unter Aron Bischoffs politischem Decknamen dokumentiert worden. Der Mann, der sich Aron Bischoff nannte, hat irgendwo hier gelebt, nur so viel wissen wir. Und in der Plattenstrasse wohnen ja zum Teil noch Mitglieder der Nachfolgeorganisationen. An der Kreuzung mit der Zürichbergstrasse sind ja immer noch die linksautonomen Studenten einquartiert. Zu solchen Aktivisten», Helens Blick zuckt kurz an meiner Figur runter und wieder hoch, «gehören Sie wohl nicht. Ein wenig hatte ich gehofft, wir könnten einen zeitgenössischen Verehrer Aron Bischoffs antreffen, der sich diesen Namen vielleicht ja gerade deshalb gegeben hat. Das wäre dann immerhin ein würdiger Ort für den Stolperstein.” Abermals schaltet sich der Kollege ein und erklärt, es sei Budget da für ein Gedenken an Opfer von politischer Verfolgung wie Aron Bischoff es einer wurde und das in Form je eines Stolpersteins aus Messing. Für den genauen Standort dieses jeweiligen Steins müsse aber eine Adresse ausgewählt werden und mit dem neuen Tipp der Verwaltung hatten sie gehofft, diesen Stein endlich setzen zu können. «Ihr Vermieter ist, sagen wir, nicht der speditivste, oder?», fragt mich Helen schliesslich. Ich verneine und damit setzt sich bei uns dreien eine Idee fest:

 

«Es ist ja nicht so, dass das so genau sein muss. Auch wenn unser Hinweis nur schwach ist, wir können den Stein hierhin setzen lassen. Da fragt keiner nach. Das interessiert niemanden so genau. Der Standort kann auch ein wenig arbiträr sein. Aron Bischoff hat irgendwo hier gewohnt und wichtiger als der genaue Wohnort ist die Erinnerung.»

 

Den Worten dieser überraschend ergebnisoffenen Beamtin entnahm ich nicht nur Pragmatismus, sondern auch einen gewissen Drang zum Abschluss ihrer Aufgabe. Hauptsache abhaken, die Arbeit als getan deklarieren können, etwas vorweisen können. Damit kann ich mich gut identifizieren, gerne erleichtere ich ihr das. Ich habe zwar keine formelle Autorität über die Geschichte Aron Bischoffs, habe mir diesen Namen ja eigentlich nur ausgedacht und damit völlig zufällig ergaunert, doch Helen sehnt sich spürbar nach meiner Zustimmung. Also nicke ich grosszügig und sage «Klar, irgendein Bischoff hat hier gewohnt und somit gehört der Name, und alles was damit zusammenhängt, hier in die Plattenstrasse. Klar, wieso nicht?» Wir atmen alle ein wenig auf, schmunzeln einander zu und einigen uns somit auf diese Lösung. Man bedankt sich, man gibt sich gute Wünsche und geht auseinander.

 

 

Die schmucke alte Plattenstrasse in Zürich verbindet vieles miteinander. Nicht nur Gebäude und die Institutionen darinnen, sondern vor allem Menschen. Die meisten dieser Menschen kommen zweckmässig in die Plattenstrasse, um an ebendiesen Institutionen zu arbeiten oder sich dort ausbilden zu lassen. Hier haben andere Menschen wiederum ihren Lebensmittelpunkt, sie wohnen hier. Es liegt in der Natur eines jeden Quartiers, das sich die Bewohner mit der Zeit ändern. Manche ziehen weg, andere kommen hinzu, man wird hier hineingeboren, man findet hier zu seinem Lebensende. Doch diese Wandel geschehen nicht immer freiwillig; manche Menschen kamen hierher und gingen fort, weil die Verwaltung sie umhergescheucht und letzten Endes in die Arme ihrer Peiniger getrieben hat. Selbst ein so idyllischer Ort wie die wunderschöne Plattenstrasse, in der gerade die Frühlingsblüten aufgehen, beheimatet unsere Abgründe, unsere Versagen als Gesellschaft. Die riesigen Bäume der Kantonsschulen auf dem Rämibühl vergegenwärtigen, wie alt und erhaben diese Stadt, und besonders dieses Quartier, ist. Genauso tut das die zierliche Architektur dieses Quartiers, die an schmucke Pariser Viertel erinnert. Inmitten all dieser Zürcher Idylle denk ich an dich, lieber Aron. Du, Aron, hast dein Zuhause irgendwo hier gehabt. Von hier hast du politischen Widerstand geleistet. Hier bist du leider auch gescheitert. Du warst ein Linker, vielleicht ein Gewerkschafter, ein Sozialdemokrat. Hast aus deiner Wohnung heraus soziale Ziele für alle verfolgt. Hast du zusätzlich einen Mann geliebt, als das noch illegal und durchaus gefährlich war? Warst du allenfalls Jude? Es verbergen sich viele mögliche tragische Schicksale hinter deinem Decknamen, in dieser Nachbarschaft. Denn von irgendwo hier wurdest du ins Nichts vertrieben. Und unter deinem Decknamen blieben auch dein wahrer Namen und Wohnort verborgen. Denn unter deinem echten Namen findet man wohl keine Auskunft über dein grausames Schicksal. Und unter “Aron Bischoff” findet man nichts über dein wahres Leben. Dieser, dein gewählter Name, Aron Bischoff, dein Schutz vor politischer Verfolgung, der wurde leider auch zum Grund für dein Vergessenwerden. Wer hätte deiner noch gedenken können; wer hätte dein Schicksal für die Nachwelt erhalten können?

Diese Aufgabe habe ich übernommen. Ich mag ahnungslos dazu gestolpert sein, aber ich nehme die Aufgabe liebend gerne wahr. Lieber Aron, ich wünschte, du wüsstest das! Wenige Wochen nach dem letzten Gespräch mit den Archivaren kamen drei Leute hierher: ein Vertreter einer Stiftung für historische Aufarbeitung, die Archivarin und ein Handwerker. Unter meinem Beisein haben wir zu deinen Ehren den Gedenkstein gesetzt, an deinem neuen Zuhause. Knapp steht dort geschrieben, wie dich die Verwaltung einschüchterte, bedrohte und schlussendlich verriet. Das Datum deiner Wegweisung aus dem Land ist dort notiert, wie auch dein Einweisungsdatum ins KZ Buchenwald. Kaum stand dieses Datum wenige Monate später auf meinem Kalender, stellte ich Andachtskerzen und Blumen neben deinem Stolperstein auf. Ansonsten gedenkt deiner ja niemand mehr. Mögen diese schwachen Teelichter nicht umsonst verbrennen! Ich hoffe, die Schüler und Studentinnen haben im Vorbeigehen dich und deine Geschichte wenigstens kurz bemerkt. Kurz den Namen «Aron Bischoff» gelesen und ungefähr aufgeschnappt, was dir damals widerfahren ist. Denn damit hast du das Unmögliche geschafft: Dein Leben ist nicht gänzlich verborgen geblieben. Du bist trotz deiner Anonymität zurückgekehrt und wirst erkannt. Du bist somit erneut und ein für alle Mal: Aron Bischoff, der Unbekannte aus der Plattenstrasse.



In Gedenken an Walter Kölliker und Else Lasker-Schüler.

 

Die schmucke alte Plattenstrasse in Zürich verbindet Teile der Universität, anonyme Einzimmerwohnungen und eine Rudolf-Steiner-Schule. Sie befindet sich unweit der kantonalen Gymnasien auf der einen Seite und des illustren Friedhofs Fluntern auf der andern, welcher wiederum in Gehdistanz zum Zoo und zur FIFA liegt. Elias Canetti ging in der Freiestrasse, parallel zur Plattenstrasse gelegen, in die Kantonsschule und liegt nun selbst im Friedhof Fluntern begraben, zwei oder drei Gräber neben James Joyce. Rosa Luxemburg und Robert Oppenheimer haben zeitweise ebenfalls mal hier gewohnt. Inmitten dieser illustren Märchenlandschaft wichtiger Persönlichkeiten und Institutionen, da hause jetzt ich, in der Mitte der Plattenstrasse, und gehe ab und an vor die Tür, meinen bestellten Fastfood abzuholen. Wer ich bin, ist nicht wichtig; auch nicht, wie ich genau heisse. Dem Lieferdienst gegenüber habe ich mich als Aron Bischoff ausgegeben. Das aber ist nicht mein eigentlicher Name. Vielmehr hat es die Hausverwaltung schon monatelang versäumt, die Beschriftung am Klingelbrett anzupassen. Monate schon wohne ich hier unter falschem Namen. Mittlerweile ist immerhin meine Küche eingerichtet worden. Ich könnte jetzt also selber kochen, aber das möchte ich nicht. Damit mein Essen mich findet, muss also ein Mensch den im System angezeigten Namen mit dem Namen auf meiner Klingel irgendwie verbinden. Auf ebendieser Klingel steht «A. Bischoff», also bin ich jetzt für den Lieferdienst Aron Bischoff. Die Essenslieferanten interessiert das nicht, selbst wenn ich sie mit dieser Anekdote von ihrem marternden Job für wenige Minuten abhalten würde. Ich erleichtere aber ihr emsiges Schaffen, indem ich mit Minuten an Vorsprung hinunterschleiche und mich draussen vor der Haustüre geduldig wartend positioniere. So brauchen sie nicht erst meinen falschen Namen auf der Klingel zu suchen, ich lüge sie einfach direkt an.

«Aron Bischoff?», «Yep genau, danke, schöne Abig no!», könnte ein Austausch lauten, oder ich begrüsse sie direkt mit meinem Nom de Guerre «Bischoff, Aron!» und nehme Herrn Bischoffs Mahlzeit entgegen.

 

Eines Tages also entschliesse ich mich, wieder mal mein Essen bringen zu lassen und zwar am frühen Nachmittag. Lange geschlafen, nur koffeiniert, aber nicht genährt, dem Kochen nicht zugeneigt, habe ich einfach Lust darauf verspürt und eine umfangreiche Bestellung bei der Lieferbude meines Vertrauens aufgegeben. Denn umfangreich macht zu dieser Tageszeit besonders viel Sinn: Die Bestellung kann als eine Art Brunch meinen Morgenhunger stillen und zugleich als Mittagessen dienen; und – das ist der Clou – für den Abend kann ich ja jetzt auch schon vorsorgen. So spare ich mir einen ganzen Tag des Kochens. Astrein bleibt die Küche, das gefällt.

 

Ich erwarte also jene Tagesration und prüfe regelmässig auf meinem Telefon, wann ich die Lieferung unten abfangen kann. Und da werde ich doch glatt urplötzlich von meiner Klingel aufgeschreckt, als sie viel zu früh mehrmals schellt. Ich eile zur Pforte hinunter, möchte den tüchtigen Lieferanten ja nicht warten lassen. Doch unten wartet kein Lieferant, kein Essen, sondern nur eine alltäglich gekleidete Frau. Meinen neugierigen, nach Essen Ausschau haltenden Blick, den ich im Näherkommen auf sie gerichtet hatte, bemerkt sie und spricht mich freundlich an. Ob ich den Herrn Bischoff kenne, fragt sie mich. Sie muss es also gewesen sein, die mich da heruntergeklingelt hat. Doch ohne Essen sehe ich keinen Anlass, unnötig zu lügen. Ausserdem will ich sie nicht mit Erklärungen zu meinem Ess- und Bestellverhalten behelligen. Ich entscheide mich also diesmal für die Wahrheit.

Dass hier einst einer namens Bischoff gewohnt habe, so viel wisse ich, entgegne ich. Der Frau weiten sich die Augen und sofort fragt sie drauf los. Wie denn dieser Herr Bischoff geheissen habe, ob nicht zufällig Aron Bischoff um genau zu sein, wann er denn hier gewohnt habe, woher ich von ihm wisse und ob ich mir denn ganz gewiss sicher sei. Ich erhoffte mir bei meinen hastigen Antworten darauf einzig, dass mein Essen nicht allzu bald komme; dass ich die Frau abspeisen könne, bevor der ahnungslose Essenslieferant die Situation gänzlich ins Absurde stürzen würde. Also gab ich hastig zurück, der Bischoff habe tatsächlich Aron geheissen, habe vor ungewisser Zeit hier gewohnt, davon wisse ich von meinem Vermieter und die Gewissheit der Auskunft beruhe einzig auf seinem Wort; ich selber wisse von nichts – und sei mir auch keiner Schuld bewusst, hätte ich fast hinzugefügt. Bei der Bestätigung des Namens «Aron» wurde die Frau geradezu ekstatisch und notierte sich alles eilig in einen Notizblock und erfragte enthusiastisch den Kontakt meines Vermieters.

 

Da nahte zu meinem Schreck in orangenem Aufzug der Lieferant auf einem Fahrrad – oder Velo, wie es hierzulande genannt wird. Ich diktierte in abgelenkter Hast die Telefonnummer meines Vermieters und beobachtete gehetzt, wie der Lieferant unschuldig sein Velo an einem Fahrradständer abstellte. Ich tat abgelenkt, damit mich dieser nicht nach meinem Namen fragen würde. Denn dann hätte ich die Wahl gehabt zwischen der Nennung meines Schwindelnamens, für den sich diese Frau seltsamerweise interessierte, oder meinem Essen, auf das ich nicht verzichten und für dessen gescheiterte Annahme ich später vom Lieferdienst nicht gerügt werden wollte. Zu meinem Lieferdienst hege ich die sonnigste Beziehung; ich würde mich im Leben nicht trauen, meine Nährmutter dergestalt zu verärgern. Ich war also schon bei den letzten zwei Ziffern der Telefonnummer angelangt, welche die Frau wegen Dialekt-Inkompatibilitäten zwischen uns mehrmals falsch verstand. Der Lieferant hatte in einiger Entfernung bereits die vielen Tüten und Essenskartons aus seinem quadratischen Rucksack gehievt und zückte sein Telefon, um die persönlichen Details des Bestellers nachzusehen. Nervös wippte ich auf der Stelle hin und her, in der Hoffnung, die Frau möge sich zügig entfernen. Doch die Unselige! Sie musterte die Klingelknöpfe und klingelte doch tatsächlich schon wieder an meiner, also an Aron Bischoffs, Klingel. Damit sie ja auch bald gehe, klärte ich sie auf, dass die Wohnung vermutlich leerstehe, noch nie habe ich den Bischoff gesehen, ja wirklich, das sage jeder hier, ja ja, es sei komisch, aber da werde sicher niemand kommen, wie leid mir das tue, das sei alles, was ich wisse, ja bitte sehr, sehr gerne, gleichfalls einen schönen Tag, tschüss!

Während dieser hastigen Unterhaltung hatte sich die Frau weggedreht und ihren Notizzettel in ihre Handtasche gleiten lassen. Hinter ihrem Rücken ging der orangen gekleidete Lieferant an das gerade eben freigewordene Klingelbrett, um, wo sonst, an Aron Bischoffs, also an meiner, Klingel zu läuten. Hätte die Frau das gesehen, ich wäre verloren gewesen!

Ich ging proaktiv auf den Lieferanten zu und rief «Ja, isch für mich!» und übertönte seine namennennende Gegenfrage mit lautem Danksagen und guten Wünschen, damit der vermaledeite Name ja auch nicht hörbar falle, den die Frau womöglich noch hätte aufschnappen können.

 

Problemlos ging die Transaktion vonstatten. Der Schwindel blieb unentdeckt und ich war für den Tag nahrungstechnisch versorgt. Erst nachdem ich das Fresspaket in meine Wohnung gebracht und dort zur Nervenlinderung gesamthaft verschlungen hatte und sich langsam ein komatöser Mittagsschlaf ankündigte, fragte ich mich, weshalb die Frau diesen Aron Bischoff eigentlich suchte. Den Namen schien sie zu kennen, einschliesslich dem Vornamen, der so an meiner Klingel nicht stand und eigentlich ein Geheimnis zwischen mir und dem Lieferdienst war. Doch mit diesem Lieferdienst hatte sie ja augenscheinlich nichts zu tun, sie wusste dennoch genau, in die Plattenstrasse und vor mein Gebäude zu kommen. Aron Bischoff wohnte durchaus an meiner Adresse und sie hatte bereits nichtsahnend mit ihm, nämlich mit mir, geredet. Was auch immer sie bezüglich der Causa Bischoff im Schilde führte, ich würde wohl kaum als Ersatz herhalten können. Nun trat langsam wirklich das Nahrungskoma ein und im Eindösen begriffen dachte ich schmunzelnd: «Macht nichts, ich kann ja auch einfach Aron Bischoff sein.»

 

 

Anderntags, ich hatte mich ausnahmsweise selber mit Nahrung versorgt, schellte um die späte Mittagszeit meine Klingel. Ausser Lieferanten klingelt jedoch niemand jemals an meiner Tür, mit Ausnahme der rätselhaften Frau von letztens. Als ich mich darauf in Windeseile kleidete – das war zu jener Tageszeit noch nicht gänzlich geschehen und musste jetzt in aller Hast nachgeholt werden – kam mir ebendiese Frau wieder in den Sinn, die sich so für Aron Bischoff interessiert hatte. War es jetzt an der Zeit, mich der Verwechslung zu stellen?

 

Vor der Türe erschrak ich nicht wenig, als ich ein wohlbekanntes Wappen auf blauem Hintergrund auf der Kleidung der Leute erspähte, die bereits vier Mal geklingelt hatten und gerade zu einem fünften oder gar sechsten Klingeln ansetzten, als ich ihnen endlich am Gebäudeeingang entgegenhechelte. Die alltäglich gekleidete Frau von letztens war nicht unter den Leuten, die da auf mich warteten. Nein, es waren zwei durchaus autoritär gekleidete Gestalten. Diese waren aber nicht von der Polizei, nein, es war noch viel schlimmer: Es waren Beamte der kantonalen Verwaltung! Was wollte mir die Verwaltung da an den Kragen? War etwa mein Namensschwindel irgendwie hoch oben aufgefallen? Drohten mir jetzt wütende Briefe, unangenehme Telefonate oder gar eine persönliche Vorladung?

 

Zu allem Unglück begann unser Gespräch schon höchst bedrohlich: «Aron Bischoff?», fragte mich eine der beiden. Sie sah aus wie eine engagierte Beamtin, die den Verwaltungsapparat mit einer kühlen Schärfe in den Augen beeindruckend verkörperte. Auf meinen verdatterten Gesichtsausdruck hin sagte sie, was wohl erklärend und beruhigend wirken sollte, sie selber heisse Helen und sei vom Staatsarchiv entsandt. Aber was sollte ich jetzt antworten? Sie hatten ja offensichtlich auf den Klingelknopf mit der Aufschrift «A. Bischoff» gedrückt und ich war erschienen, das wurde mir gerade jetzt erst so richtig bewusst. Tatsächlich kam Helen, nachdem sie sich selbst und ihren Kollegen, S. Steppacher, namentlich vorgestellt hatte, zu ihrer ursprünglichen Frage zurück. Doch glücklicherweise kam sie mir diesmal entscheidend entgegen: «Wir haben von der Verwaltung den Hinweis bekommen, dass hier Aron Bischoff wohnen soll. Aber ich nehme mal an, das sind nicht Sie, oder?»

Ja, gut, das ist natürlich nett, dass sie mir diese Möglichkeit direkt anbietet. «Nein, natürlich nicht!», gebe ich süffisant kichernd zurück. «Ja eben!», reagiert die Frau sofort. Die Sache sei aber, erklärt sie eifrig, dass sie schon länger nach der Adresse von Aron Bischoff suchten. Das Einwohnermeldeamt habe ihnen den Hinweis gegeben, hier habe Aron Bischoff gewohnt, diese Information sei erst kürzlich in ihre Datenbank gekommen. Auf ihre Anfrage habe mein Vermieter jedoch angegeben, die Person A. Bischoff habe nicht Aron geheissen, sondern ganz anders; er sei sich jetzt nicht sicher, die Wohnung habe ja schon so lange leergestanden und das mit den Klingeln mache ja eigentlich seine Frau. Die Frau sei aber aktuell in Indien und so weiter. Wie genau der Name Bischoff mit ausgerechnet diesem Vornamen Aron in die Datenbank kam, das sei allen Involvierten schleierhaft. Eine andere Person namens A. Bischoff habe sich bereits einmal an- und wieder abgemeldet, doch irgendwie kam für dieselbe Adresse kürzlich der Name Aron Bischoff dazu, jedoch ohne Datumsangabe einer Ab- oder Anmeldung, niemand wisse, wieso. Auch ich, schliesse ich Helens Erklärung ab, habe leider nichts mit irgendeinem Menschen namens Bischoff zu tun. Eine sichtliche Ernüchterung machte sich in Helens Gesicht breit. Fast als würde sie mich anflehen, erklärte sie mir, beim Staatsarchiv habe man beim Eingang dieser mysteriösen neuen Information gehofft, wenigstens Familienangehörige, persönliche Bekannte oder irgendeine nähere Information zu Aron Bischoff hier zu entdecken. Irgendjemand hat in irgendein System genau diesen Namen eingetragen, das könne doch wohl kein Zufall sein! Es sei die einzige Spur, die es jemals zu Aron Bischoff gegeben habe!

 

Langsam dämmerte mir, dass das Einwohnermeldeamt wohl die Kundendaten von Lieferdiensten in die eigenen Systeme speisen könnte, um möglicherweise Hinweise auf gesuchte Personen finden zu können. Man stelle sich vor, jemand gibt eine falsche Wohnadresse in einem steuerlich günstigen Wohnort an, um teure Steuern zu umgehen, und gibt gegenüber dem Lieferdienst aber offen zu, eigentlich ständig im teuren Quartier zu hausen und eben zu speisen. Lieferdienste kennen beinahe intime Details über unser Leben, weil sie uns in diesen sehr verletzlichen Momenten begegnen, nämlich in den Momenten unseres Hungers. Und so könnte es sein, dass mein unschuldiger Namensschwindel in eine kantonale Datenbank übergewandert ist und von dort eine Kaskade von Benachrichtigungen und Alarmen ausgelöst hat, die schlussendlich Helen und Herrn Steppacher vor meine Haustür gebracht haben.

 

Fast wollte ich diesen aberwitzigen, doch nicht gänzlich unmöglichen Grund für das Missverständnis preisgeben, als ich einhielt. Noch wusste ich ja nicht, weswegen sich die beiden Archivare für Aron Bischoff interessierten. Also fragte ich vorsichtig danach und wollte erst dann entscheiden, wie viel ich tatsächlich preisgeben würde.

“Achso, ja, das ist schnell erklärt”, meinte Herr Steppacher und schilderte die Lage: Aron Bischoff gehöre zu einer kurzen Liste von Namen, welche als Holocaustopfer bekannt seien, deren Adresse zu Lebzeiten man aber noch nicht habe ausfindig machen können. Beim Stichpunkt «Holocaust» fahre ich zusammen. So eine tonnenschwere Assoziation ist mir jetzt unheimlich peinlich; wie um alles in der Welt könnte ich jetzt noch von meiner Lieferdienstlist erzählen? Das würde mich jetzt völlig entwürdigen und meinen Fastfood-Pragmatismus gänzlich geschmacklos dastehen lassen. Und die Frau und der Herr vom Staatsarchiv würden das wohl auch noch archivieren und so würde mein Name in die Nachwelt eingehen als einer, der sich bei Dönerbuden als Holocaustopfer ausgegeben hat. Wehe mir!

 

Weiter, erzählte die Frau, wäre genau die Plattenstrasse eine plausible Adresse vom tatsächlichen Aron Bischoff gewesen. Statt einer eindeutigen Adresse sei in den Quellen nur «Platte» angegeben worden, was eine Bezeichnung für die Umgebung rund um die Plattenstrasse ist. Man wisse zusätzlich auch, dass der Bischoff eine der hiesigen Kantonsschulen besucht und unweit von hier Kunst studiert hat. So stehe es in einem überlieferten Verhörprotokoll der Kantonspolizei. Das erwähnte Kunststudium könne an der Universität gewesen sein oder aber eine Ausbildung im Kunsthaus weiter unten, fügt Helens Kollege hinzu. Doch kein archiviertes Verzeichnis dieser beiden Institutionen kennt einen Aron Bischoff, noch gibt es eine Geburtsurkunde oder irgend einen sonstigen Registereintrag zu diesem Namen.

 

Ehe ich die logische Konsequenz dieser Zusammenhänge gänzlich begriffen hatte, kommt mir die Archivarin zuvor: «Aron Bischoff war also ein Deckname. Das ist deshalb plausibel, weil er in verschiedenen linken Organisationen aktiv war und darum wohl seine wahre Identität verstecken musste. Nur die Polizeiarchive, im In- und Ausland, kennen diesen Namen. Seine Verfolgung, Inhaftierung und schlussendliche Ermordung, diese Ereignisse sind unter Aron Bischoffs politischem Decknamen dokumentiert worden. Der Mann, der sich Aron Bischoff nannte, hat irgendwo hier gelebt, nur so viel wissen wir. Und in der Plattenstrasse wohnen ja zum Teil noch Mitglieder der Nachfolgeorganisationen. An der Kreuzung mit der Zürichbergstrasse sind ja immer noch die linksautonomen Studenten einquartiert. Zu solchen Aktivisten», Helens Blick zuckt kurz an meiner Figur runter und wieder hoch, «gehören Sie wohl nicht. Ein wenig hatte ich gehofft, wir könnten einen zeitgenössischen Verehrer Aron Bischoffs antreffen, der sich diesen Namen vielleicht ja gerade deshalb gegeben hat. Das wäre dann immerhin ein würdiger Ort für den Stolperstein.” Abermals schaltet sich der Kollege ein und erklärt, es sei Budget da für ein Gedenken an Opfer von politischer Verfolgung wie Aron Bischoff es einer wurde und das in Form je eines Stolpersteins aus Messing. Für den genauen Standort dieses jeweiligen Steins müsse aber eine Adresse ausgewählt werden und mit dem neuen Tipp der Verwaltung hatten sie gehofft, diesen Stein endlich setzen zu können. «Ihr Vermieter ist, sagen wir, nicht der speditivste, oder?», fragt mich Helen schliesslich. Ich verneine und damit setzt sich bei uns dreien eine Idee fest:

 

«Es ist ja nicht so, dass das so genau sein muss. Auch wenn unser Hinweis nur schwach ist, wir können den Stein hierhin setzen lassen. Da fragt keiner nach. Das interessiert niemanden so genau. Der Standort kann auch ein wenig arbiträr sein. Aron Bischoff hat irgendwo hier gewohnt und wichtiger als der genaue Wohnort ist die Erinnerung.»

 

Den Worten dieser überraschend ergebnisoffenen Beamtin entnahm ich nicht nur Pragmatismus, sondern auch einen gewissen Drang zum Abschluss ihrer Aufgabe. Hauptsache abhaken, die Arbeit als getan deklarieren können, etwas vorweisen können. Damit kann ich mich gut identifizieren, gerne erleichtere ich ihr das. Ich habe zwar keine formelle Autorität über die Geschichte Aron Bischoffs, habe mir diesen Namen ja eigentlich nur ausgedacht und damit völlig zufällig ergaunert, doch Helen sehnt sich spürbar nach meiner Zustimmung. Also nicke ich grosszügig und sage «Klar, irgendein Bischoff hat hier gewohnt und somit gehört der Name, und alles was damit zusammenhängt, hier in die Plattenstrasse. Klar, wieso nicht?» Wir atmen alle ein wenig auf, schmunzeln einander zu und einigen uns somit auf diese Lösung. Man bedankt sich, man gibt sich gute Wünsche und geht auseinander.

 

 

Die schmucke alte Plattenstrasse in Zürich verbindet vieles miteinander. Nicht nur Gebäude und die Institutionen darinnen, sondern vor allem Menschen. Die meisten dieser Menschen kommen zweckmässig in die Plattenstrasse, um an ebendiesen Institutionen zu arbeiten oder sich dort ausbilden zu lassen. Hier haben andere Menschen wiederum ihren Lebensmittelpunkt, sie wohnen hier. Es liegt in der Natur eines jeden Quartiers, das sich die Bewohner mit der Zeit ändern. Manche ziehen weg, andere kommen hinzu, man wird hier hineingeboren, man findet hier zu seinem Lebensende. Doch diese Wandel geschehen nicht immer freiwillig; manche Menschen kamen hierher und gingen fort, weil die Verwaltung sie umhergescheucht und letzten Endes in die Arme ihrer Peiniger getrieben hat. Selbst ein so idyllischer Ort wie die wunderschöne Plattenstrasse, in der gerade die Frühlingsblüten aufgehen, beheimatet unsere Abgründe, unsere Versagen als Gesellschaft. Die riesigen Bäume der Kantonsschulen auf dem Rämibühl vergegenwärtigen, wie alt und erhaben diese Stadt, und besonders dieses Quartier, ist. Genauso tut das die zierliche Architektur dieses Quartiers, die an schmucke Pariser Viertel erinnert. Inmitten all dieser Zürcher Idylle denk ich an dich, lieber Aron. Du, Aron, hast dein Zuhause irgendwo hier gehabt. Von hier hast du politischen Widerstand geleistet. Hier bist du leider auch gescheitert. Du warst ein Linker, vielleicht ein Gewerkschafter, ein Sozialdemokrat. Hast aus deiner Wohnung heraus soziale Ziele für alle verfolgt. Hast du zusätzlich einen Mann geliebt, als das noch illegal und durchaus gefährlich war? Warst du allenfalls Jude? Es verbergen sich viele mögliche tragische Schicksale hinter deinem Decknamen, in dieser Nachbarschaft. Denn von irgendwo hier wurdest du ins Nichts vertrieben. Und unter deinem Decknamen blieben auch dein wahrer Namen und Wohnort verborgen. Denn unter deinem echten Namen findet man wohl keine Auskunft über dein grausames Schicksal. Und unter “Aron Bischoff” findet man nichts über dein wahres Leben. Dieser, dein gewählter Name, Aron Bischoff, dein Schutz vor politischer Verfolgung, der wurde leider auch zum Grund für dein Vergessenwerden. Wer hätte deiner noch gedenken können; wer hätte dein Schicksal für die Nachwelt erhalten können?

Diese Aufgabe habe ich übernommen. Ich mag ahnungslos dazu gestolpert sein, aber ich nehme die Aufgabe liebend gerne wahr. Lieber Aron, ich wünschte, du wüsstest das! Wenige Wochen nach dem letzten Gespräch mit den Archivaren kamen drei Leute hierher: ein Vertreter einer Stiftung für historische Aufarbeitung, die Archivarin und ein Handwerker. Unter meinem Beisein haben wir zu deinen Ehren den Gedenkstein gesetzt, an deinem neuen Zuhause. Knapp steht dort geschrieben, wie dich die Verwaltung einschüchterte, bedrohte und schlussendlich verriet. Das Datum deiner Wegweisung aus dem Land ist dort notiert, wie auch dein Einweisungsdatum ins KZ Buchenwald. Kaum stand dieses Datum wenige Monate später auf meinem Kalender, stellte ich Andachtskerzen und Blumen neben deinem Stolperstein auf. Ansonsten gedenkt deiner ja niemand mehr. Mögen diese schwachen Teelichter nicht umsonst verbrennen! Ich hoffe, die Schüler und Studentinnen haben im Vorbeigehen dich und deine Geschichte wenigstens kurz bemerkt. Kurz den Namen «Aron Bischoff» gelesen und ungefähr aufgeschnappt, was dir damals widerfahren ist. Denn damit hast du das Unmögliche geschafft: Dein Leben ist nicht gänzlich verborgen geblieben. Du bist trotz deiner Anonymität zurückgekehrt und wirst erkannt. Du bist somit erneut und ein für alle Mal: Aron Bischoff, der Unbekannte aus der Plattenstrasse.