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In Zeiten des abnehmenden Lichts: Wie drei Kinos das Berner Oberland erhellen

Das Kinosterben ist in der Schweiz in vollem Gange. Zürich verliert die Arthouse-Kinos Uto und Alba, sowie auch das Kulturzentrum-mit-Kino-und-Bücherei-Bistro-Bar-und-Basar Kosmos. Luzern hat kürzlich zwei wichtige Kinos verloren. Ich wage es kaum, nach noch mehr Kino-Schliessungen zu googlen; man mag kaum hinschauen. Dieses Gefühl trage ich schon länger mit mir herum, nämlich seitdem das Online-Streaming von einer globalen Pandemie als grösste Gefahr fürs Kino abgelöst wurde. Selbst damals war das grosse Geld in der Kinobranche vorbei; viele AkteurInnen dort mehr aus Kunst-Leidenschaft dabei als aus Geldliebe. Auch ich bin ein solcher Leidenschaftsakteur und habe neben meinem Studium ein Kino geleitet und das Programm mitgestaltet. Doch diese Leidenschaft war leicht: Die Finanzierung dieser universitären Filmstelle kam aus grossen Töpfen, wo die jährliche niedrig-fünfstellige Summe gern mal übersehen werden konnte. Gelegentlich musste man all seine Sprachfertigkeit zusammenklauben und an der Jahresversammlung die Institution Kino gegenüber mehreren Fraktionen von Naturwissenschaftlern verteidigen. Dann gab es Beifall, eine kurze Abstimmung und das Geld durfte weiterhin fliessen.

 

Wirklich Leidenschaft ist es natürlich, wenn man sich der Witterung des freien Marktes und den Stromschnellen der Mode stellt, um als Kino frei zu segeln. In der Pandemie hatte ich also beschlossen, die Leidenschaft in ihrer aktuellen Form in der Schweiz zu erforschen. Ich wollte post-pandemie quer durchs Land reisen, um alle möglichen Kinos zu besuchen und mit den Personen am Steuer zu sprechen. Dieses Projekt passte dann leider nicht in mein post-pandemisches Leben, es blieb bei einer einzigen Reise. Diese Reise war dennoch sehr ergiebig und ich möchte hier erzählen, was ich dabei gesehen habe.

 

Altes, familiengeführtes Kino in Interlaken: Rex Piccolo

1 – Piccolo Rex in Interlaken

 

Die Leidenschaft fürs Kino liegt hier in der Familie. Ich unterhalte mich mit der vierten Generation, während die fünfte schon fleissig Popcornmachen übt. Denn abgesehen von der über hundertjährigen Geschichte ist man hier besonders aufs immer frischgemachte Popcorn stolz. Ich lehne sehr vorsichtig ab, da ich als Filmfan mit Popcorn-Abneigung eine Rarität bin, die nicht selten irritiert. Der aktuelle Kinobetreiber stammt von einem italienischen Einwanderer ab, der Anfang des 20. Jahrhunderts als Magaziner arbeitete und nebenher eine Leidenschaft fürs Kino hatte. Am meisten Kinokultur dürfte aber erst seine Enkelin erlebt haben, welche die goldenen Jahre des Kinos als Betreiberin erleben durfte. Ihr Sohn erzählt mir etliche Geschichten und Begebenheiten aus dieser langen Kinogeschichte. Zum Beispiel ist in diesem Kinogebäude der Schweizer Regisseur Thomas Imboden aufgewachsen. Familie, Herkunft, Tradition. Ein echter Familienbetrieb.

 

Himmel auf Erden: Das Kinotheater Brienz

2 – Kinotheater Brienz

 

Das Kino hatte aber nicht immer ein so glanzvoll altbackenes Image wie die Grande Dame in Interlaken heutzutage. Als nämlich Anfang der 50er-Jahre in der wunderschönen Gemeinde Brienz ein Kinotheater erbaut werden sollte, protestierte die dortige Kirche und warnte vor der drohenden Verderbung der Jugend. Ein schöneres Gegenargument als das Kino in seinem heutigen Zustand kann es gegen solche Warnungen nicht geben. Ich nähere mich an einem wunderschön sonnigen Tag dem Ort und sehe in der Nähe des Eingangs eine grosse Skulptur mit menschlichen Umrissen. Zuerst ein biederes Standbild irgendeiner historischen Persönlichkeit erwartend kippe ich dann aber beinahe vornüber, als ich die Figur erkenne: Es ist ein aus Holz geschnitzter Batman! Etwas weiter sehe ich dann auch noch eine geschnitzte Tafel, die Charlie Chaplin in seiner Rolle als Tramp mit dem «Kid» aus dem Stummfilm von 1921 zeigt. Das spricht für Kreativität und Leidenschaft, gelebte Liebe zum Film! Was ich später über den Betrieb des Kinotheaters Brienz erfahre, bestätigt das nur weiter. Der Projektionist erzählt, wie das Kino als Gemeinschaftsprojekt in der Form eines Vereins geführt wird. Alle Mitglieder sind Freiwillige, und es finden sich für den Vorstand, die Kasse und die Projektion jeweils 5 Köpfe, und das schon stabil seit Jahrzehnten. Die Mitglieder sind häufig in zweiter oder gar dritter Generation im Verein tätig. Die Kassierin, wird mir erzählt, sei noch relativ neu dabei, nämlich erst seit dreizehn Jahren. Mich beeindruckt vor allem, dass der Verein auf das Corona-Unterstützungspaket des Bundes verzichtet hat, weil es kommerziell geführte Kinos eher nötig hätten als der Verein. Das Programm bedient ein möglichst breites Publikum, da es für viele das einzige ist, das nah genug für einen Abendbesuch ist. Dennoch gibt es monatlich eine Woche lang ausgewähltere Filme im Originalton zu sehen, für die etwas cinephileren Gäste. Ich sehe mir einen auf Deutsch synchronisierten Pixar-Film in der Nachmittagsvorstellung an, also leider keine solche Vorstellung für die Kenner. Es ist dennoch eine lebensverändernde Erfahrung, ganz im Ernst. Es ist nämlich schwer, nicht an ein irdisches Paradies zu glauben, wenn man nach einem Film auf grosser Leinwand mit tadelloser Tonqualität aus diesem so gemeinschaftlich geführten und gastfreundlichen Kino hinaustritt und die umwerfende Landschaft des Brienzersees gerade vor sich hat. Wir wünschen es uns alle, aber nicht jeder kann das Kinotheater Brienz sein.

 

Nicht die Kinolandschaft, die wir verdienen?

 

Ein Raum der Räume: Movie World Spiez

3 – Movie World Spiez

 

In Spiez steht ein ähnlich schön gelegenes Kino, das aber deutlich kommerzieller geführt wird. Die Aufschrift am Gebäude kündigt nämlich an: BISTRO MOTEL KINOS THEATER PIAZZA BAR VIDEOTHEK TERRASSE. Es erklärt sich von selbst, dass das Kino hier nicht das einzige Standbein des Geschäfts sein kann. Aber auch Kommerz kann schön und leidenschaftlich sein. Der grosszügig geschmückte Innenbereich erzählt von unzähligen Events und von vielen sehr verschiedenen Filmen, die dort schon liefen. Das Bistro bietet eine erstaunlich grosse Auswahl an Essen, mit erstaunlich hohem Käseanteil. Auch hier geniesst man frisches Popcorn – wenn man es denn geniesst – und eine freie Sicht auf den Thunersee. Der Name meines Kinosaals, Cinema Paradiso, verrät auch, dass es hier eine cinephile Kinoleitung geben muss. Gerne hätte ich mich noch mit jemandem über die Geschichte dieses nintendohaften Wunderlandes unterhalten, doch eine Premiere eines lang ersehnten Films lässt das Kino plötzlich mit Gästen überlaufen. Immerhin scheint es diesem Kino gutzugehen!

 

Die Unkenrufe verstummen in meinem Kopf. Zumindest im Berner Oberland macht und besucht man noch Kino. Man überdauert die Durststrecken mit familiärer Tradition und gemeinschaftlicher Vereinsarbeit. Kulinarisch, auch über das Popcorn hinaus, schafft man es auch. Dem Berner Oberland geht es gut: Es hat gute Kinos.

 

Immer eine gute Richtung

Das Kinosterben ist in der Schweiz in vollem Gange. Zürich verliert die Arthouse-Kinos Uto und Alba, sowie auch das Kulturzentrum-mit-Kino-und-Bücherei-Bistro-Bar-und-Basar Kosmos. Luzern hat kürzlich zwei wichtige Kinos verloren. Ich wage es kaum, nach noch mehr Kino-Schliessungen zu googlen; man mag kaum hinschauen. Dieses Gefühl trage ich schon länger mit mir herum, nämlich seitdem das Online-Streaming von einer globalen Pandemie als grösste Gefahr fürs Kino abgelöst wurde. Selbst damals war das grosse Geld in der Kinobranche vorbei; viele AkteurInnen dort mehr aus Kunst-Leidenschaft dabei als aus Geldliebe. Auch ich bin ein solcher Leidenschaftsakteur und habe neben meinem Studium ein Kino geleitet und das Programm mitgestaltet. Doch diese Leidenschaft war leicht: Die Finanzierung dieser universitären Filmstelle kam aus grossen Töpfen, wo die jährliche niedrig-fünfstellige Summe gern mal übersehen werden konnte. Gelegentlich musste man all seine Sprachfertigkeit zusammenklauben und an der Jahresversammlung die Institution Kino gegenüber mehreren Fraktionen von Naturwissenschaftlern verteidigen. Dann gab es Beifall, eine kurze Abstimmung und das Geld durfte weiterhin fliessen.

 

Wirklich Leidenschaft ist es natürlich, wenn man sich der Witterung des freien Marktes und den Stromschnellen der Mode stellt, um als Kino frei zu segeln. In der Pandemie hatte ich also beschlossen, die Leidenschaft in ihrer aktuellen Form in der Schweiz zu erforschen. Ich wollte post-pandemie quer durchs Land reisen, um alle möglichen Kinos zu besuchen und mit den Personen am Steuer zu sprechen. Dieses Projekt passte dann leider nicht in mein post-pandemisches Leben, es blieb bei einer einzigen Reise. Diese Reise war dennoch sehr ergiebig und ich möchte hier erzählen, was ich dabei gesehen habe.

 

Altes, familiengeführtes Kino in Interlaken: Rex Piccolo

1 – Piccolo Rex in Interlaken

 

Die Leidenschaft fürs Kino liegt hier in der Familie. Ich unterhalte mich mit der vierten Generation, während die fünfte schon fleissig Popcornmachen übt. Denn abgesehen von der über hundertjährigen Geschichte ist man hier besonders aufs immer frischgemachte Popcorn stolz. Ich lehne sehr vorsichtig ab, da ich als Filmfan mit Popcorn-Abneigung eine Rarität bin, die nicht selten irritiert. Der aktuelle Kinobetreiber stammt von einem italienischen Einwanderer ab, der Anfang des 20. Jahrhunderts als Magaziner arbeitete und nebenher eine Leidenschaft fürs Kino hatte. Am meisten Kinokultur dürfte aber erst seine Enkelin erlebt haben, welche die goldenen Jahre des Kinos als Betreiberin erleben durfte. Ihr Sohn erzählt mir etliche Geschichten und Begebenheiten aus dieser langen Kinogeschichte. Zum Beispiel ist in diesem Kinogebäude der Schweizer Regisseur Thomas Imboden aufgewachsen. Familie, Herkunft, Tradition. Ein echter Familienbetrieb.

 

Himmel auf Erden: Das Kinotheater Brienz

2 – Kinotheater Brienz

 

Das Kino hatte aber nicht immer ein so glanzvoll altbackenes Image wie die Grande Dame in Interlaken heutzutage. Als nämlich Anfang der 50er-Jahre in der wunderschönen Gemeinde Brienz ein Kinotheater erbaut werden sollte, protestierte die dortige Kirche und warnte vor der drohenden Verderbung der Jugend. Ein schöneres Gegenargument als das Kino in seinem heutigen Zustand kann es gegen solche Warnungen nicht geben. Ich nähere mich an einem wunderschön sonnigen Tag dem Ort und sehe in der Nähe des Eingangs eine grosse Skulptur mit menschlichen Umrissen. Zuerst ein biederes Standbild irgendeiner historischen Persönlichkeit erwartend kippe ich dann aber beinahe vornüber, als ich die Figur erkenne: Es ist ein aus Holz geschnitzter Batman! Etwas weiter sehe ich dann auch noch eine geschnitzte Tafel, die Charlie Chaplin in seiner Rolle als Tramp mit dem «Kid» aus dem Stummfilm von 1921 zeigt. Das spricht für Kreativität und Leidenschaft, gelebte Liebe zum Film! Was ich später über den Betrieb des Kinotheaters Brienz erfahre, bestätigt das nur weiter. Der Projektionist erzählt, wie das Kino als Gemeinschaftsprojekt in der Form eines Vereins geführt wird. Alle Mitglieder sind Freiwillige, und es finden sich für den Vorstand, die Kasse und die Projektion jeweils 5 Köpfe, und das schon stabil seit Jahrzehnten. Die Mitglieder sind häufig in zweiter oder gar dritter Generation im Verein tätig. Die Kassierin, wird mir erzählt, sei noch relativ neu dabei, nämlich erst seit dreizehn Jahren. Mich beeindruckt vor allem, dass der Verein auf das Corona-Unterstützungspaket des Bundes verzichtet hat, weil es kommerziell geführte Kinos eher nötig hätten als der Verein. Das Programm bedient ein möglichst breites Publikum, da es für viele das einzige ist, das nah genug für einen Abendbesuch ist. Dennoch gibt es monatlich eine Woche lang ausgewähltere Filme im Originalton zu sehen, für die etwas cinephileren Gäste. Ich sehe mir einen auf Deutsch synchronisierten Pixar-Film in der Nachmittagsvorstellung an, also leider keine solche Vorstellung für die Kenner. Es ist dennoch eine lebensverändernde Erfahrung, ganz im Ernst. Es ist nämlich schwer, nicht an ein irdisches Paradies zu glauben, wenn man nach einem Film auf grosser Leinwand mit tadelloser Tonqualität aus diesem so gemeinschaftlich geführten und gastfreundlichen Kino hinaustritt und die umwerfende Landschaft des Brienzersees gerade vor sich hat. Wir wünschen es uns alle, aber nicht jeder kann das Kinotheater Brienz sein.

 

Nicht die Kinolandschaft, die wir verdienen?

 

Ein Raum der Räume: Movie World Spiez

3 – Movie World Spiez

 

In Spiez steht ein ähnlich schön gelegenes Kino, das aber deutlich kommerzieller geführt wird. Die Aufschrift am Gebäude kündigt nämlich an: BISTRO MOTEL KINOS THEATER PIAZZA BAR VIDEOTHEK TERRASSE. Es erklärt sich von selbst, dass das Kino hier nicht das einzige Standbein des Geschäfts sein kann. Aber auch Kommerz kann schön und leidenschaftlich sein. Der grosszügig geschmückte Innenbereich erzählt von unzähligen Events und von vielen sehr verschiedenen Filmen, die dort schon liefen. Das Bistro bietet eine erstaunlich grosse Auswahl an Essen, mit erstaunlich hohem Käseanteil. Auch hier geniesst man frisches Popcorn – wenn man es denn geniesst – und eine freie Sicht auf den Thunersee. Der Name meines Kinosaals, Cinema Paradiso, verrät auch, dass es hier eine cinephile Kinoleitung geben muss. Gerne hätte ich mich noch mit jemandem über die Geschichte dieses nintendohaften Wunderlandes unterhalten, doch eine Premiere eines lang ersehnten Films lässt das Kino plötzlich mit Gästen überlaufen. Immerhin scheint es diesem Kino gutzugehen!

 

Die Unkenrufe verstummen in meinem Kopf. Zumindest im Berner Oberland macht und besucht man noch Kino. Man überdauert die Durststrecken mit familiärer Tradition und gemeinschaftlicher Vereinsarbeit. Kulinarisch, auch über das Popcorn hinaus, schafft man es auch. Dem Berner Oberland geht es gut: Es hat gute Kinos.

 

Immer eine gute Richtung