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Erleuchtete Leinwand: Die Filmempfehlungen des Vatikans

Es wird häufig unterschätzt, wie sehr sich der Vatikan bemüht, mit den Zeiten zu gehen. So bietet er schon längst Apps mit Live-Streams und Push-Notifications fürs Gebet an. Das Prinzip der Kirche ist es dabei, Menschen aller Lebensstile zu erreichen und ihnen Bezugspunkte zu geben. Ein ganzes System von Bezugspunkten bilden dabei die Heiligen, weshalb es Schutzheilige für praktisch jede soziale Schicht und Gruppe gibt, auch etwa für moderne Berufsgruppen wie Programmierer. Der 2006 verstorbene und kürzlich seliggesprochene Carlo Acutis wird laut Gerüchten auch der Schutzheilige des Internets, der sozialen Medien und vielleicht auch der Gamer. Stücke seiner Nike-Schuhe und seines Pullis, mit denen er bestattet wurde, werden bereits als Reliquien eingesetzt.

 

Auch im Thema Kino hat sich der Vatikan bemüht, mitzuziehen. Man geht allgemein davon aus, dass das Kino im Dezember 1895 begann mit den Projektionen der Gebrüder Lumière. 1995 stand also der hundertste Geburtstag des Kinos an. Der Erzbischof John P. Foley stellte einen ausführlichen Plan auf, wie der Vatikan diese Feier begehen würde: ein Filmfestival, mehrere offizielle Bekundungen und Publikationen, ein offiziell abgesegneter Filmkanon und die Ernennung eines Schutzheiligen fürs Kino. Nun ist es so, dass ich in meiner Rolle als Kino-Leiter vor wenigen Jahren googlete, welchen Heiligen ich mir auf den Schreibtisch stellen könnte. Die Suche war ergebnislos; das Kino hat bis heute keinen Schutzheiligen.

 

Wie es dazu kam, bzw. nicht zur Ernennung des Heiligen kam, das erzählt uns einer der Verantwortlichen dieses Plans, Román Gubern. Er ist einer der grössten zeitgenössischen Intellektuellen Spaniens; ein Jurist, Historiker und nicht zuletzt Medien-Theoretiker und Filmkenner. In einem 2020 erschienen Büchlein erzählt er auf beflügelt-unterhaltsame Weise wie die gesamte Erfahrung war, dem Vatikan als Film-Experten zu dienen. Zum Beispiel wird dort zum ersten Mal erzählt, wieso schlussendlich doch kein Schutzheiliger fürs Kino ernannt wurde. Dafür hatte das Komitee eine Vorauswahl in Form eines Trios gebildet: die Heiligen Franz von Assisi, Don Giovanni Bosco und Maximiliano Rabe. Als Gubern einem befreundeten Journalisten von diesem Projekt erzählte, ging ein Sturm in der Presse los voller Spott und Häme. Der einzige Ausweg aus diesem Snafu war es, das Vorhaben einzustellen. Dabei ist ein Kino-Schutzheiliger gar nicht so abwegig! Die Boulevard-Presse spottete mit dem Vorschlag einer damals bekannten italienischen Pornodarstellerin. Das ist natürlich arger Spott gegen das Kino. Der Witzbold verkennt aber auch, dass die katholische Kirche Schutzheilige für absolut alle ernennt, auch für Prostituierte. Und dass manche Heilige selber Prostituierte waren. Doch es half nichts, der Spott war genug, um den Plan von ganz oben abbrechen zu lassen. Jetzt bekommt vermutlich das Internet eher einen Schutzheiligen als das Kino.

 

Doch die Feier des Kinos fand ansonsten wie geplant statt. Und der Filmkanon wurde erfolgreich gebildet. Der Filmkanon kommt scheinbar reflektiert daher: Er besteht aus drei thematischen Listen und diese aus je 15 Einträgen. Die Listen haben die Themen der religiösen Werte, der moralischen und humanistischen Werte und der künstlerischen Werte. Die Bildung dieser Listen war aber weit weniger akribisch geplant als das vielleicht wirken mag. Anfänglich ging man von einer einzigen Liste aus, die Gubern als Diskussionsgrundlage vorlegte. Doch die Debatten darüber liessen nicht lange auf sich warten. Allen voran dominierten zwei Fragestellungen die Diskussion des Komitees: Sind genug verschiedene Menschen repräsentiert? Man denke dabei in wie vielen verschiedenen Ländern Katholiken leben. Die zweite Frage betraf die Gesinnungen der Regisseure: Ein katholischer Filmkanon mit Atheisten, Homosexuellen, Marxisten, Rassisten und sogar Protestanten? Diese Kritik kam aber vor allem von anderen Stellen im Vatikan, das Komitee selber zog es vor, die Filme als solche zu bewerten und den Regisseuren alles zu vergeben. Dennoch war die Frage, ob man ausschliesslich Regisseure aus christlichen Kulturen aufführen wolle oder so divers wie möglich sein wollte.

 

Die Länder- und Kulturen-Vielfalt war zwar ein erklärtes Ziel, doch passte das Komitee nicht allzu überzeugend seinen Kurs an. Um die Kulturen-Vielfalt zu verdeutlichen, unterteilte es die ursprüngliche Liste in zwei, in eine klar christlich orientierte Liste und eine für den Rest. Dieser Rest war aber eine Mischung aus spirituell motivierten Filmen und einfach nur gefeierten Klassikern. So kam es zur Dreiteilung in christliche Werte, nicht-christlichen spirituellen/moralischen Werten und grossen künstlerischen Leistungen. Inklusiv kann man die Listen aber nur zum Teil nennen: Die Glaubensvielfalt der Regisseure ist repräsentativ für den europäischen Kontinent, aber nicht viel mehr. Gubern gesteht selber, dass ein kalter Angstschauer im Komitee spürbar war bei der Vorstellung, dutzende oder hunderte obskure Film-Vorschläge aus aller Herren Länder schauen zu müssen. Ich kenne das Gefühl. Es ist nunmal angenehmer, bereits erschlossene Pfade zu gehen. Es ist nicht zwingend die Herrschaft alter Herren, die unsere Kanons bestimmen; vielmehr ist es einfach unangenehm das Gebiet zu beschreiten, das noch nicht erkundet und geebnet wurde. So blieb auch das Komitee eher gemütlich; allein dass ich gut die Hälfte der ausgewählten Filme schon gesehen hatte, als ich von der Liste erfuhr, zeigt die klare Orientierung an etablierten Klassikern. Die meisten der mir unbekannten Filme waren aus Italien und nicht sonderlich gut – der römische Bias war wie so oft schwer zu überwinden. Die Listen bieten reichlich Angriffsfläche für die zeitgenössische Kritik an Kanons. Dass sich der Vatikan dessen bewusst war, zeigt der Titel der Liste: Alcuni film importanti («einige wichtige Filme»).

 

Kanons haben bisweilen einen fürchterlichen Ruf. Ihnen wird die Erhaltung des Patriarchats, des Eurozentrismus und dem damit verbundenen Kolonialismus und noch eine Menge anderer Ismen nachgesagt. Ich halte es dennoch für falsch, gar keine Kanons aufstellen zu wollen. Zum einen kann man bessere und schlechtere Kanons bilden – auch zweckgebundene und allgemeinere – und überhaupt: Kanons sind identitätsstiftend. Meiner Meinung nach muss die Antwort auf weltanschaulich veraltete Kanons aus neuen, diversen, ikonoklastischen Kanons bestehen; ohne dabei zu vergessen, auch ältere Werke zu loben, die auch heute noch wegweisend sind.

 

Ich habe also ein Freizeitprojekt gestartet, diesen Kanon fertigzuschauen. Hat sich das gelohnt? Nun, die durchschnittliche Bewertung der mir neuen Filme war gerademal 6.15/10, aber hatte eine relativ hohe Varianz von ca. 3. Highlights der Neuentdeckungen waren The Burmese Harp und Babettes Fest. Nazarin und Thérèse waren zwar schwerere Filme, aber gut für den persönlichen Horizont. Lowlights waren ein klobiger Stummfilm aus 1905, der unbeholfen erzählte Monsieur Vincent und die super biedere Little-Women-Adaption aus 1933.

 

Im Folgenden rhapsodiere ich zu den drei Listen und kommentiere vor allem die überraschenden und sehenswürdigen Filme.

 

Künstlerische Werte

 

Durschnittliche Bewertung: 7.13/10; Varianz: 1.7

 

Diese Liste definiert sich rein nach der Qualität. Es ist wichtig zu betonen, dass gute geistliche Arbeit darin besteht, der Welt als solcher zu begegnen. Zuhören bevor man urteilt, beschreiben bevor man vorschreibt. Entgegen gewissen Vorurteilen schottet sich die Kirche nicht ab. In dieser Liste werden mit Citizen Kane und Otto e Mezzo grosse und wichtige Titel genannt; auch Kinderfilme finden sich repräsentiert mit Fantasia und Wizard of Oz. Doch vermisse ich da Studio-Ghibli-Filme, die es 1995 schon gab: Grave of the Fireflies, fürs ethische Messaging etwa, oder My Neighbor Totoro. Wizard of Oz ist zwar nett, doch ist wahrlich nicht die Spitze des Kinder-Kinos (und entstand unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen). Die Stummfilm-Ära ist mit Napoleon und Metropolis gut vertreten, doch fehlt ganz eindeutig Der Mann mit der Kamera, ohne den jeder Kanon der besten Filme unvollständig ist. Platz dafür wäre meiner Meinung nach gewesen, da mit dem Little Women der Dreissigerjahre und Lavender Hill Mob künstlerisch belanglose Filme ausgewählt wurden. Es fällt eine Präferenz für ältere Filme auf, da 2001: Space Odyssey aus 1968 der jüngste Film auf der Liste ist.

Es ist zugegebenermassen die schwierigste Liste, da 15 Plätze weit nicht ausreichen. Da der Kanon als ganzes ja «einige wichtige Filme heisst», kann man immerhin sagen: Ja, wichtig sind die Filme immerhin alle hier.

 

Moralische und humanistische Werte

 

Durschnittliche Bewertung: 7.06/10; Varianz: 1.1

 

Ein Kollege von mir hat eine gute Beobachtung gemacht: Ästhetik spielte auch bei den beiden wertgeleiteten Listen eine Rolle. So sei zum Beispiel Intolerance ein inhaltlich schwacher Film (Der Regisseur regt sich vier Stunden lang darüber auf, dass man ihn für die Glorifizierung von rassistischen Lynchjagden kritisiert hatte), doch sei er visuell eindrücklich. Das trifft ähnlich auf Chariots of Fire zu, der nicht die umfassendste Kritik von Anti-Semitismus liefert, aber sicherlich eine der ästhetisch beeindruckendsten. Der marxistische Neorealismus wird für seine ethischen Überlegungen inkludiert (Ladri di biciclette, Roma Citta Aperta). Mit Dersu Uzala und Wilde Erdbeeren sind zudem absolute Meisterwerke auf der Liste, die sich ganz mühelos mit grossen menschlichen Fragen auseinandersetzen. Dazu komplementär der Dekalog von Kieslowski, der mit seiner beinah sowjet-realistischen Ästhetik zehn ethische Dilemmata anhand der zehn Gebote liefert; ein Muss auf dieser Liste.

Besonders schön ist auch, dass nicht nur Werte vorgelebt werden in der Liste. The Tree of Wooden Clogs ist ein dreistündiger Einblick ins Leben einfacher Bauern im 19. Jahrhundert. Vermutlich gefiel den Geistlichen, wie die Bauern ihren Gebetskalender einhalten und füreinander sorgen. Doch ist der Film auch von Ausbeutung und daraus resultierenden prekären Verhältnissen geprägt. Und das wiederum erschwert das menschliche Miteinander und die Spiritualität.

Mit Gandhi und The Burmese Harp sind der Hinduismus und der Buddhismus jeweils vertreten, wobei ersterer ein herkömmlicher Hollywood-Streifen ist und mich letzterer wirklich stark gepackt und überrascht hat.

 

Religiöse Werte

 

Durschnittliche Bewertung: 6.76/10; Varianz: 5.2

 

Was sofort auffällt: Die religiösen Picks sind ziemlich lit!, wenn auch durchmischt. Hier haben wir die Epen Andrei Rublev und Ben-Hur, die Klassiker Ordet und Passion de Jeanne d’Arc und für mich damals neue aber geniale Werke wie Babettes Fest. Mit Thérèse wird sogar Surrealismus auf der Liste gewagt und mit The Mission auch Fehler des Vatikans thematisiert und wie ökonomische Interessen die spirituelle Arbeit unterbunden haben. Dieser Punkt wird sehr klar, wenn Liam Neeson und Jeremy Irons Jesuiten spielen, die mit Waffengewalt indigene Stämme gegen die portugiesischen Truppen verteidigen. Ausserdem sind die Regisseure auf dieser Liste mit die gewagtesten: Während auf den vorherigen Listen ethisch ambivalente Regisseure und viele Andersgläubige zu erwarten waren, so hat man ausgerechnet auf der religiösen Liste zwei Filme eines Sowjets (Tarkovsky), einen von Buñuel (passt nicht wirklich in eine Ideologie-Schublade) und einen von Pier Paolo Pasolini (Kommunist und queer). Erstere beide sind trotz ihrer Vorgeschichte stark an Religion interessiert gewesen; letzterer ist aber vermutlich die Krönung der Liste: Sein Evangelium nach Matthäus ist die ideale Adaption der Jesusgeschichte, ganz ohne biederen oder kitschigen Schmuck. Man hat hier wirklich das Gefühl, den Originaltext zu lesen, der ganz spontan Bilder generiert. Die Identität des Regisseurs provozierte damals Linke und Rechte gleich, doch ist Pasolini hier das Sprachrohr einer viel älteren und politisch subversiveren Botschaft. 

Schade ist nur, dass ein Evangelium-Stummfilm aus 1905 mit ausgewählt wurde. Die Begründung war, dass mit den damaligen technischen Bedingungen die Produktion von 40 zusammenhängenden Filmminuten maximal aufwändig war, insbesondere durch die manuelle Einfärbung jedes Einzelbilds. Das beweise eine leidenschaftliche Hingabe zum Evangelium. Dennoch finde ich es einfach lächerlich, wie jeder Take maximal eine Minute lang sein konnte; dadurch wird aus dem letzten Abendmahl eine rasante Prozedur mit hinsetzen, Brot und Wein umherwedeln, wieder aufstehen und aus dem Frame laufen. Dieser Film und Monsieur Vincent (sowie ein allseits beliebter Film, den ich nicht ausstehen kann) ziehen die Gesamt-Bewertung der Liste ziemlich weit runter, was sich an der hohen Varianz meiner Bewertungen bemerkbar macht.

 

Fazit

 

Wie gut ist dieser Filmkanon also? Nun, seine Hauptschwächen sind der starke Bias für italienische Filme, was der gesamten Liste schadet, weil es dadurch weniger Variation und Überraschungen gibt. Die Liste der «künstlerischen Werte» ist zwar gut, aber etwas staubig und bieder. Die Liste der «menschlichen und moralischen Werte» ist interessanter und hat kaum Schwächen. Die religiöse Liste ist die spannendste und birgt so manche Überraschung und Meisterwerk. Als Gesamtfazit würde ich sagen, dass der Vatikan sich hier vor allem als intellektuelle Instanz bewiesen hat und vielen Filmen und Menschen Anerkennung gegeben hat, die sie definitiv verdient haben. Dabei wurde viel über den eigenen Schatten gesprungen und Anerkennung dort gegeben, was für viele als katholisches Feindesgebiet missverstanden werden könnte. Also kein Allround-Kanon aber spezifisch für die katholische Sicht ein interessanter Grundstein für frische Cineasten. Am besten wäre natürlich ein katholisches Filmmagazin, das diese Diskussionen und Ehrungen regelmässig fortführt, um nicht bei einer spürbar veralteten und teils einseitigen Liste stehenzubleiben.

Auf dem Set von Pasolinis Evangelium-Adaption

Es wird häufig unterschätzt, wie sehr sich der Vatikan bemüht, mit den Zeiten zu gehen. So bietet er schon längst Apps mit Live-Streams und Push-Notifications fürs Gebet an. Das Prinzip der Kirche ist es dabei, Menschen aller Lebensstile zu erreichen und ihnen Bezugspunkte zu geben. Ein ganzes System von Bezugspunkten bilden dabei die Heiligen, weshalb es Schutzheilige für praktisch jede soziale Schicht und Gruppe gibt, auch etwa für moderne Berufsgruppen wie Programmierer. Der 2006 verstorbene und kürzlich seliggesprochene Carlo Acutis wird laut Gerüchten auch der Schutzheilige des Internets, der sozialen Medien und vielleicht auch der Gamer. Stücke seiner Nike-Schuhe und seines Pullis, mit denen er bestattet wurde, werden bereits als Reliquien eingesetzt.

 

Auch im Thema Kino hat sich der Vatikan bemüht, mitzuziehen. Man geht allgemein davon aus, dass das Kino im Dezember 1895 begann mit den Projektionen der Gebrüder Lumière. 1995 stand also der hundertste Geburtstag des Kinos an. Der Erzbischof John P. Foley stellte einen ausführlichen Plan auf, wie der Vatikan diese Feier begehen würde: ein Filmfestival, mehrere offizielle Bekundungen und Publikationen, ein offiziell abgesegneter Filmkanon und die Ernennung eines Schutzheiligen fürs Kino. Nun ist es so, dass ich in meiner Rolle als Kino-Leiter vor wenigen Jahren googlete, welchen Heiligen ich mir auf den Schreibtisch stellen könnte. Die Suche war ergebnislos; das Kino hat bis heute keinen Schutzheiligen.

 

Wie es dazu kam, bzw. nicht zur Ernennung des Heiligen kam, das erzählt uns einer der Verantwortlichen dieses Plans, Román Gubern. Er ist einer der grössten zeitgenössischen Intellektuellen Spaniens; ein Jurist, Historiker und nicht zuletzt Medien-Theoretiker und Filmkenner. In einem 2020 erschienen Büchlein erzählt er auf beflügelt-unterhaltsame Weise wie die gesamte Erfahrung war, dem Vatikan als Film-Experten zu dienen. Zum Beispiel wird dort zum ersten Mal erzählt, wieso schlussendlich doch kein Schutzheiliger fürs Kino ernannt wurde. Dafür hatte das Komitee eine Vorauswahl in Form eines Trios gebildet: die Heiligen Franz von Assisi, Don Giovanni Bosco und Maximiliano Rabe. Als Gubern einem befreundeten Journalisten von diesem Projekt erzählte, ging ein Sturm in der Presse los voller Spott und Häme. Der einzige Ausweg aus diesem Snafu war es, das Vorhaben einzustellen. Dabei ist ein Kino-Schutzheiliger gar nicht so abwegig! Die Boulevard-Presse spottete mit dem Vorschlag einer damals bekannten italienischen Pornodarstellerin. Das ist natürlich arger Spott gegen das Kino. Der Witzbold verkennt aber auch, dass die katholische Kirche Schutzheilige für absolut alle ernennt, auch für Prostituierte. Und dass manche Heilige selber Prostituierte waren. Doch es half nichts, der Spott war genug, um den Plan von ganz oben abbrechen zu lassen. Jetzt bekommt vermutlich das Internet eher einen Schutzheiligen als das Kino.

 

Doch die Feier des Kinos fand ansonsten wie geplant statt. Und der Filmkanon wurde erfolgreich gebildet. Der Filmkanon kommt scheinbar reflektiert daher: Er besteht aus drei thematischen Listen und diese aus je 15 Einträgen. Die Listen haben die Themen der religiösen Werte, der moralischen und humanistischen Werte und der künstlerischen Werte. Die Bildung dieser Listen war aber weit weniger akribisch geplant als das vielleicht wirken mag. Anfänglich ging man von einer einzigen Liste aus, die Gubern als Diskussionsgrundlage vorlegte. Doch die Debatten darüber liessen nicht lange auf sich warten. Allen voran dominierten zwei Fragestellungen die Diskussion des Komitees: Sind genug verschiedene Menschen repräsentiert? Man denke dabei in wie vielen verschiedenen Ländern Katholiken leben. Die zweite Frage betraf die Gesinnungen der Regisseure: Ein katholischer Filmkanon mit Atheisten, Homosexuellen, Marxisten, Rassisten und sogar Protestanten? Diese Kritik kam aber vor allem von anderen Stellen im Vatikan, das Komitee selber zog es vor, die Filme als solche zu bewerten und den Regisseuren alles zu vergeben. Dennoch war die Frage, ob man ausschliesslich Regisseure aus christlichen Kulturen aufführen wolle oder so divers wie möglich sein wollte.

 

Die Länder- und Kulturen-Vielfalt war zwar ein erklärtes Ziel, doch passte das Komitee nicht allzu überzeugend seinen Kurs an. Um die Kulturen-Vielfalt zu verdeutlichen, unterteilte es die ursprüngliche Liste in zwei, in eine klar christlich orientierte Liste und eine für den Rest. Dieser Rest war aber eine Mischung aus spirituell motivierten Filmen und einfach nur gefeierten Klassikern. So kam es zur Dreiteilung in christliche Werte, nicht-christlichen spirituellen/moralischen Werten und grossen künstlerischen Leistungen. Inklusiv kann man die Listen aber nur zum Teil nennen: Die Glaubensvielfalt der Regisseure ist repräsentativ für den europäischen Kontinent, aber nicht viel mehr. Gubern gesteht selber, dass ein kalter Angstschauer im Komitee spürbar war bei der Vorstellung, dutzende oder hunderte obskure Film-Vorschläge aus aller Herren Länder schauen zu müssen. Ich kenne das Gefühl. Es ist nunmal angenehmer, bereits erschlossene Pfade zu gehen. Es ist nicht zwingend die Herrschaft alter Herren, die unsere Kanons bestimmen; vielmehr ist es einfach unangenehm das Gebiet zu beschreiten, das noch nicht erkundet und geebnet wurde. So blieb auch das Komitee eher gemütlich; allein dass ich gut die Hälfte der ausgewählten Filme schon gesehen hatte, als ich von der Liste erfuhr, zeigt die klare Orientierung an etablierten Klassikern. Die meisten der mir unbekannten Filme waren aus Italien und nicht sonderlich gut – der römische Bias war wie so oft schwer zu überwinden. Die Listen bieten reichlich Angriffsfläche für die zeitgenössische Kritik an Kanons. Dass sich der Vatikan dessen bewusst war, zeigt der Titel der Liste: Alcuni film importanti («einige wichtige Filme»).

 

Kanons haben bisweilen einen fürchterlichen Ruf. Ihnen wird die Erhaltung des Patriarchats, des Eurozentrismus und dem damit verbundenen Kolonialismus und noch eine Menge anderer Ismen nachgesagt. Ich halte es dennoch für falsch, gar keine Kanons aufstellen zu wollen. Zum einen kann man bessere und schlechtere Kanons bilden – auch zweckgebundene und allgemeinere – und überhaupt: Kanons sind identitätsstiftend. Meiner Meinung nach muss die Antwort auf weltanschaulich veraltete Kanons aus neuen, diversen, ikonoklastischen Kanons bestehen; ohne dabei zu vergessen, auch ältere Werke zu loben, die auch heute noch wegweisend sind.

 

Ich habe also ein Freizeitprojekt gestartet, diesen Kanon fertigzuschauen. Hat sich das gelohnt? Nun, die durchschnittliche Bewertung der mir neuen Filme war gerademal 6.15/10, aber hatte eine relativ hohe Varianz von ca. 3. Highlights der Neuentdeckungen waren The Burmese Harp und Babettes Fest. Nazarin und Thérèse waren zwar schwerere Filme, aber gut für den persönlichen Horizont. Lowlights waren ein klobiger Stummfilm aus 1905, der unbeholfen erzählte Monsieur Vincent und die super biedere Little-Women-Adaption aus 1933.

 

Im Folgenden rhapsodiere ich zu den drei Listen und kommentiere vor allem die überraschenden und sehenswürdigen Filme.

 

Künstlerische Werte

 

Durschnittliche Bewertung: 7.13/10; Varianz: 1.7

 

Diese Liste definiert sich rein nach der Qualität. Es ist wichtig zu betonen, dass gute geistliche Arbeit darin besteht, der Welt als solcher zu begegnen. Zuhören bevor man urteilt, beschreiben bevor man vorschreibt. Entgegen gewissen Vorurteilen schottet sich die Kirche nicht ab. In dieser Liste werden mit Citizen Kane und Otto e Mezzo grosse und wichtige Titel genannt; auch Kinderfilme finden sich repräsentiert mit Fantasia und Wizard of Oz. Doch vermisse ich da Studio-Ghibli-Filme, die es 1995 schon gab: Grave of the Fireflies, fürs ethische Messaging etwa, oder My Neighbor Totoro. Wizard of Oz ist zwar nett, doch ist wahrlich nicht die Spitze des Kinder-Kinos (und entstand unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen). Die Stummfilm-Ära ist mit Napoleon und Metropolis gut vertreten, doch fehlt ganz eindeutig Der Mann mit der Kamera, ohne den jeder Kanon der besten Filme unvollständig ist. Platz dafür wäre meiner Meinung nach gewesen, da mit dem Little Women der Dreissigerjahre und Lavender Hill Mob künstlerisch belanglose Filme ausgewählt wurden. Es fällt eine Präferenz für ältere Filme auf, da 2001: Space Odyssey aus 1968 der jüngste Film auf der Liste ist.

Es ist zugegebenermassen die schwierigste Liste, da 15 Plätze weit nicht ausreichen. Da der Kanon als ganzes ja «einige wichtige Filme heisst», kann man immerhin sagen: Ja, wichtig sind die Filme immerhin alle hier.

 

Moralische und humanistische Werte

 

Durschnittliche Bewertung: 7.06/10; Varianz: 1.1

 

Ein Kollege von mir hat eine gute Beobachtung gemacht: Ästhetik spielte auch bei den beiden wertgeleiteten Listen eine Rolle. So sei zum Beispiel Intolerance ein inhaltlich schwacher Film (Der Regisseur regt sich vier Stunden lang darüber auf, dass man ihn für die Glorifizierung von rassistischen Lynchjagden kritisiert hatte), doch sei er visuell eindrücklich. Das trifft ähnlich auf Chariots of Fire zu, der nicht die umfassendste Kritik von Anti-Semitismus liefert, aber sicherlich eine der ästhetisch beeindruckendsten. Der marxistische Neorealismus wird für seine ethischen Überlegungen inkludiert (Ladri di biciclette, Roma Citta Aperta). Mit Dersu Uzala und Wilde Erdbeeren sind zudem absolute Meisterwerke auf der Liste, die sich ganz mühelos mit grossen menschlichen Fragen auseinandersetzen. Dazu komplementär der Dekalog von Kieslowski, der mit seiner beinah sowjet-realistischen Ästhetik zehn ethische Dilemmata anhand der zehn Gebote liefert; ein Muss auf dieser Liste.

Besonders schön ist auch, dass nicht nur Werte vorgelebt werden in der Liste. The Tree of Wooden Clogs ist ein dreistündiger Einblick ins Leben einfacher Bauern im 19. Jahrhundert. Vermutlich gefiel den Geistlichen, wie die Bauern ihren Gebetskalender einhalten und füreinander sorgen. Doch ist der Film auch von Ausbeutung und daraus resultierenden prekären Verhältnissen geprägt. Und das wiederum erschwert das menschliche Miteinander und die Spiritualität.

Mit Gandhi und The Burmese Harp sind der Hinduismus und der Buddhismus jeweils vertreten, wobei ersterer ein herkömmlicher Hollywood-Streifen ist und mich letzterer wirklich stark gepackt und überrascht hat.

 

Religiöse Werte

 

Durschnittliche Bewertung: 6.76/10; Varianz: 5.2

 

Was sofort auffällt: Die religiösen Picks sind ziemlich lit!, wenn auch durchmischt. Hier haben wir die Epen Andrei Rublev und Ben-Hur, die Klassiker Ordet und Passion de Jeanne d’Arc und für mich damals neue aber geniale Werke wie Babettes Fest. Mit Thérèse wird sogar Surrealismus auf der Liste gewagt und mit The Mission auch Fehler des Vatikans thematisiert und wie ökonomische Interessen die spirituelle Arbeit unterbunden haben. Dieser Punkt wird sehr klar, wenn Liam Neeson und Jeremy Irons Jesuiten spielen, die mit Waffengewalt indigene Stämme gegen die portugiesischen Truppen verteidigen. Ausserdem sind die Regisseure auf dieser Liste mit die gewagtesten: Während auf den vorherigen Listen ethisch ambivalente Regisseure und viele Andersgläubige zu erwarten waren, so hat man ausgerechnet auf der religiösen Liste zwei Filme eines Sowjets (Tarkovsky), einen von Buñuel (passt nicht wirklich in eine Ideologie-Schublade) und einen von Pier Paolo Pasolini (Kommunist und queer). Erstere beide sind trotz ihrer Vorgeschichte stark an Religion interessiert gewesen; letzterer ist aber vermutlich die Krönung der Liste: Sein Evangelium nach Matthäus ist die ideale Adaption der Jesusgeschichte, ganz ohne biederen oder kitschigen Schmuck. Man hat hier wirklich das Gefühl, den Originaltext zu lesen, der ganz spontan Bilder generiert. Die Identität des Regisseurs provozierte damals Linke und Rechte gleich, doch ist Pasolini hier das Sprachrohr einer viel älteren und politisch subversiveren Botschaft. 

Schade ist nur, dass ein Evangelium-Stummfilm aus 1905 mit ausgewählt wurde. Die Begründung war, dass mit den damaligen technischen Bedingungen die Produktion von 40 zusammenhängenden Filmminuten maximal aufwändig war, insbesondere durch die manuelle Einfärbung jedes Einzelbilds. Das beweise eine leidenschaftliche Hingabe zum Evangelium. Dennoch finde ich es einfach lächerlich, wie jeder Take maximal eine Minute lang sein konnte; dadurch wird aus dem letzten Abendmahl eine rasante Prozedur mit hinsetzen, Brot und Wein umherwedeln, wieder aufstehen und aus dem Frame laufen. Dieser Film und Monsieur Vincent (sowie ein allseits beliebter Film, den ich nicht ausstehen kann) ziehen die Gesamt-Bewertung der Liste ziemlich weit runter, was sich an der hohen Varianz meiner Bewertungen bemerkbar macht.

 

Fazit

 

Wie gut ist dieser Filmkanon also? Nun, seine Hauptschwächen sind der starke Bias für italienische Filme, was der gesamten Liste schadet, weil es dadurch weniger Variation und Überraschungen gibt. Die Liste der «künstlerischen Werte» ist zwar gut, aber etwas staubig und bieder. Die Liste der «menschlichen und moralischen Werte» ist interessanter und hat kaum Schwächen. Die religiöse Liste ist die spannendste und birgt so manche Überraschung und Meisterwerk. Als Gesamtfazit würde ich sagen, dass der Vatikan sich hier vor allem als intellektuelle Instanz bewiesen hat und vielen Filmen und Menschen Anerkennung gegeben hat, die sie definitiv verdient haben. Dabei wurde viel über den eigenen Schatten gesprungen und Anerkennung dort gegeben, was für viele als katholisches Feindesgebiet missverstanden werden könnte. Also kein Allround-Kanon aber spezifisch für die katholische Sicht ein interessanter Grundstein für frische Cineasten. Am besten wäre natürlich ein katholisches Filmmagazin, das diese Diskussionen und Ehrungen regelmässig fortführt, um nicht bei einer spürbar veralteten und teils einseitigen Liste stehenzubleiben.

Auf dem Set von Pasolinis Evangelium-Adaption