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Die Einsamkeit des Langstreckenläufers: Meine Erfahrung als Speedrunner

«I have become the Master of the Nintendo machine. I have become very good at defeating all sorts of tiny little two-dimensional enemies.»

–Salman Rushdie über seine Zeit im Exil

 

Vor einer Weile hat mir der Youtube-Algorithmus folgendes Video empfohlen: Ein etwas bleicher, obenrum unbekleideter junger Mann spielt den Nintendo-Klassiker Super Mario 64. Die Haare etwas verwildert, der Gesichtsausdruck stoisch. Nach nur einer Stunde und achtunddreissigeinhalb Minuten ist er mit dem gesamten Spiel fertig. In dem Moment, in dem er das Spiel endgültig durch hat, bricht er ungehalten in Tränen aus. Die Stoizität von davor bricht auf in wildes Schniefen, Lachen und Heulen. Hunderte von Zuschauer drücken dasselbe im darunter sichtbaren Chat aus. Seine Mutter betritt das Zimmer und fragt ihn besorgt, was denn los sei. Auf seine Antwort ruft sie euphorisch nach Ihrem Mann: «LARRY, ER HAT DEN WELTREKORD!»

 

Dieses Video hat mein Interesse an einem sonderbaren Phänomen der Videospielwelt entfacht, dem sogenannten Speedrunning. Ich kannte an sich schon die Grundfesten dieser Disziplin: Ein Spiel wird vom ersten Erscheinen der Firmenlogos beim Aufstarten bis zum Abspann komplett durchgespielt. Die Zeit wird dabei gemessen und es geht darum, möglichst schneller als beim letzten Mal zu sein; und natürlich auch schneller als andere Spieler. Ich wusste auch schon, dass die Spieler dabei beachtlich gut spielen müssen und das Spiel auf eine Art spielen, die für Normalsterbliche häufig nicht nachvollziehbar ist. Ein Erklärvideo zu einem einzigen Level von Super Mario gleicht etwa einer Vorlesung zu Quantenmechanik mit Erläuterungen zum Verhalten unbeobachteter Entitäten oder der mathematischen Realität von Paralleluniversen.

 

Doch etwas war mir in diesem Moment neu. Ich begann, ein zwischenmenschliches Element am Speedrun zu entdecken. Die sozialen Medien schienen wirklich sozial zu sein: Man gratulierte dem Speedrunner, man fertigte Zeichnungen an von ihm und seinem Erfolgsmoment. Die jubelnde Mutter bekam ebenfalls Publikum für ihre Streams, in denen sie backt und sich mit den Fans ihres Sohns unterhält. Ich stiess auf andere Speedrunner und deren Geschichten. Der beste Freund dieses Spielers etwa ist gebürtiger Trinidader und lebt in Spanien, wo er einen Friseursalon führt. Seine Geschichte ist geprägt von Homophobie im Heimatland und familiären Problemen. Doch als professioneller Gamer in seiner neuen Heimat blüht er regelrecht auf.  Die Brücke zwischen diesen beiden Lebensabschnitten war dabei das Speedrunning. Auch berührt mich das Motto des ersten Spielers: Sein Gaming-Pseudonym ist «Simply», das Motto dazu «Live simply». Etwas daran fühlt sich richtig und wichtig an; ich überlege nicht lange, bald habe ich schon einen Pulli von ihm bestellt, pink und mit dem Motto in supermariohaften Lettern vorne drauf.

 

Meine schnelle Begeisterung fürs Speedrunning ergibt dann Sinn, wenn man den zeitlichen Hintergrund bedenkt. Für mich ist meine Erfahrung im Speedrunning nämlich klar pandemisch. Man war zum einfachen Leben à la Simply praktisch gezwungen. Man hatte via Zoom noch alle Pflichten des normalen Lebens, aber bekam keinerlei Ausgleich dafür. Wochenenden waren nichts Besonderes mehr, alle Tage glichen sich. Die Vorhersehbarkeit meines Lebens tat meinem Gehirn sehr gut, doch leider schwand bald auch mein Gefühl vom Lebenssinn. In meinem Fall öffneten mir Videospiele die einengenden Mauern der Wohnung und boten mir daheim eine ausgleichende Unendlichkeit. Zum Beispiel in den weiten Steppen von «Breath of the Wild» oder eben durch das parasoziale Geschwindigkeits-Optimieren vom guten alten Mario 64. Das Wegfallen des Soziallebens bei gleichzeitigem Einkommen eines Nebenjobs und Wohnsituation bei den Eltern bedeuteten auch, dass sich Geld anstaute. In pandemischer Manier trug ich also Selbstspendierhosen und gönnte mir einen rasanten Einstieg ins Speedrunning; ich bestellte für insgesamt einige hundert Franken: eine originale, japanische Nintendo 64, eine japanische Kopie von Super Mario 64, einen originalen Controller wie auch einen unabhängig gefrankensteinten Controller, der das beste aus mehreren offiziellen Modellen kombiniert, ein N64-Modul, mit dem inoffizielle Spielkopien spielbar sind, konkret ein Speedrun-Trainingsmod, einen Bildschirm mit extra niedriger Latenz, um den Abstand zwischen Knopfdruck und Reaktion minimal zu halten, einen Signal-Umwandler, um das N64-Signal auf den Computer und von dort ins Internet zu streamen und ein Fusspedal um die Zeit ohne Handablenkung zu stoppen.

 

Der klar pandemischste Aspekt am Ganzen ist die Menge an aufgewendeter Freizeit: Auf dem Trainingsmodul übe ich stundenlang die einzelnen Stellen des Spiels. Das können schwierige Übergänge oder spezielle Sprünge sein, die nur auf eine bestimmte Art klappen und bei leichter Variation des Winkels oder der Geschwindigkeit signifikant Zeit kosten. Die Erfahrung ähnelt sehr stark dem Üben eines Instruments. Man füttert das gedankenlose Wesen in sich, das nur Bewegungsabläufe kennt. Man übt Übergänge und prägt sich Rhythmen ein. Wie ein Instrument macht Fortschritt auch gehörig Spass. Man beginnt, immer kleinere Nuancen zu beachten und für das gewisse Etwas im Endprodukt zu optimieren. Die eigene kognitive Erfahrung des Spiels ändert sich, man nimmt es in Zeitlupe wahr; es ist die Entdeckung der Schnelligkeit. Aber auch die Entdeckung des eigenen Innenlebens: Man lernt, seine Adrenalinausschüttungen bewusst wahrzunehmen und deren Wirkung für sich zu benutzen. Denn wenn es gut läuft, wird man in einen Wirbelwind der Emotionen geworfen, während das furiose Finale immer näher kommt – damit ist irgendwie umzugehen, wenn man das grosse Ziel der neuen Bestzeit erreichen will. Wie beim Lernen eines Instruments schaut man besseren Spielern grösstenteils bewundernd und inspiriert zu, manchmal aber auch neidisch. Nur vereinzelt gibt es da das Phänomen des hochbegabten sechsjährigen Kindes, das einem das Ego ramponiert.

 

Denn Speedrunning ist grösstenteils ein Phänomen der jungen Männer in ihren Zwanzigern. Ich verwende darum bewusst männliche Formen in diesem Text, wobei ich krude Spekulationen über den Geschlechtsunterschied vermeiden möchte. Vielmehr geht es mir um die Bedeutung der Altersstufe. Wieso gibt es kaum Kinder unter den Speedrunnern? Zum einen hält man Kinder von Videospielen eher fern, bzw. lässt ihnen nicht die nötige Zeit aufwenden, um auf so einem Niveau zu spielen. Zum anderen braucht man die erwähnte nervliche Festigkeit, die als Adoleszent womöglich schwerer aufzubauen ist. Meines Erachtens spielt aber auch Folgendes keine mindere Rolle: Die wenigsten Kinder spielen mit einem solchen Optimierungsdrang, der selbst den intendierten Rahmen des Spiels sprengt. Sie bleiben im Rahmen des Spiels, weil Kinder meist eine Spiel-Phantasie aufrecht erhalten wollen, während Speedrunner keine Phantasie erst aufbauen. Letztere sehen das Spiel als trockene Software. Passend dazu kann man Stefan Zweig zitieren, wenn er seinen Erzähler der Schachnovelle beobachten lässt, dass Schachmeister ihr Spiel nicht mehr spielen, sondern «ernsten». Die Phantasie in einem Videospiel lebt auch davon, dass man dem Spiel lebensechte Qualitäten zuspricht wie Zufall, Eigenwille seiner Wesen und Unkenntnis über die zugrundeliegenden – ja schöpferischen – Prozesse jener Welt. Ein Speedrunner ist ein Häretiker, der diese Höhle verlässt und der zerfallenden Illusion nicht hinterhertrauert. Er ist unverschämt erwachsen.

 

Aber weshalb dann speedrunnen statt spielen? Eine kompetitive Disziplin mit sozialem Netzwerk dahinter erfüllt unseren Wunsch nach Zugehörigkeit und linearer Progression. Man hat seine zweckgerichtete Gruppe und wird in ihr, mit ihr, zunehmend besser in der gemeinsamen Aktivität. Als Einzelner beeinflusst man aber auch die Gruppe: Die Bestzeiten fallen stetig auf neue Rekordtiefen, weil die Speedrun-Gruppen gemeinsam neue Strategien finden und sich gegenseitig motivieren, immer schwierigere Dinge zu erlernen. Die Community erstellt einschlägige Wissens-Ressourcen, um Neulingen den Einstieg in die aktuelle Forschungslage zu erleichtern. Das Niveau eines Individuums wird fast gänzlich vom Niveau der Gruppe bestimmt und nicht etwa von Begabung oder früherer Erfahrung im Spiel. Denn wenn eine Leistung, eine Bestzeit, erreicht wurde, so ist bewiesen, dass sie grundsätzlich möglich ist. Das befeuert die Motivation und den Mut der anderen Teilnehmer und bald darauf hat sich das Niveau der ganzen Gruppe nach oben hin angepasst. Kollektiver Fortschritt ist also möglich und direkt erlebbar. Es ist schwer auszudrücken, wie sehr das einen beeinflusst und mitzieht. Ferner, all das kann womöglich auch eine Antwort auf die individuellen Krisen der eigenen Zwanziger sein: Zu wem gehöre ich? Was ist mein Hintergrund und zu wem macht er mich? Wozu will ich mich anstrengen, was gibt mir Erfüllung? Die Antworten können gesellschaftlich konform sein in Form von prestigiösen Fächern, die man studieren möchte, oder nützlichen/anerkannten Berufen. Oder sie können, womöglich zum Trotz, nicht konform sein. Kompetitive Videospiele bewirken eine ähnliche Dynamik wie Sportarten, sind aber körperlich eher belastend als erquickend und geniessen dadurch in der Regel kein gesellschaftliches Prestige. Produktiv in irgendeiner Auslegung des Wortes sind sie ebenfalls nicht. Und entgegen meiner Ausführung zu Speedrunning als erwachsen-ernste Disziplin wirken Videospiele nach aussen hin eher kindlich oder gar kindisch. Das Speedrunning ist womöglich eine kombinierte Wunscherfüllung: gleichzeitig Sinn, Zugehörigkeit und Fortschritt erleben, wie auch zurück zu den Spielen der Kindheit zu kommen. Das ist jedenfalls mein Versuch einer Erklärung, doch ich kann nicht behaupten, die Beweggründe der vielen anderen Spielern zu kennen. Letzten Endes habe ich nur mich erlebt in dieser Zeit. Ich kann nicht verleugnen, durchaus isoliert und grösstenteils mit mir selbst beschäftigt gewesen zu sein.

 

Für mich war Speedrunning nicht nur ein soziales Pandemie-Pflaster, es war auch ein letztes Hurrah des unverschämten Spielens. Ich steuerte auf grosse Schritte zu: Verfassen der Masterarbeit in meinem Lieblingsforschungsbereich, von Zuhause ausziehen und Beginn einer akademischen Karriere. Dank der Pandemie werde ich Videospiele zwar behalten, aber wohl nicht mehr im kindstypischen, überschwänglichen Maß. Statt stundenlangen Ergründungen der Fantasiewelten eher ein/zwei kurzweilige Stunden der Ablenkung. Es sei aber gesagt, dass diese Kursänderung nicht völlig willentlich war. An sich hatte ich durchaus vor, meine Bestzeit in Mario weiter zu senken; den besten Schweizer wollte ich darin schlagen. Doch als nach der Pandemie mein Sozialleben wieder begann, ich aufgeschobene Projekte in Angriff nahm und allgemein nur noch selten ganze Tage am Stück unverplant geniessen konnte, da war es nicht mehr möglich Mario dergestalt zu ernsten. Diese Veränderung war nicht nur logistischer Natur, es lag auch an der entfallenen Monotonie, die mich erst zum Speedrunning brachte. Es gibt jetzt keine seelische Lücke mehr, die ich damit stopfen muss. Und während das eine positive Entwicklung ist, so vermisse ich doch dieses einzigartige Gefühl von damals. Ein Gefühl, das ich im Ausdruck «Die Einsamkeit des Langstreckenläufers» gut beschrieben finde. Ich möchte noch hinzufügen: Wir müssen uns den einsamen Langstreckenläufer als einen glücklichen Menschen vorstellen.

«I have become the Master of the Nintendo machine. I have become very good at defeating all sorts of tiny little two-dimensional enemies.»

–Salman Rushdie über seine Zeit im Exil

 

Vor einer Weile hat mir der Youtube-Algorithmus folgendes Video empfohlen: Ein etwas bleicher, obenrum unbekleideter junger Mann spielt den Nintendo-Klassiker Super Mario 64. Die Haare etwas verwildert, der Gesichtsausdruck stoisch. Nach nur einer Stunde und achtunddreissigeinhalb Minuten ist er mit dem gesamten Spiel fertig. In dem Moment, in dem er das Spiel endgültig durch hat, bricht er ungehalten in Tränen aus. Die Stoizität von davor bricht auf in wildes Schniefen, Lachen und Heulen. Hunderte von Zuschauer drücken dasselbe im darunter sichtbaren Chat aus. Seine Mutter betritt das Zimmer und fragt ihn besorgt, was denn los sei. Auf seine Antwort ruft sie euphorisch nach Ihrem Mann: «LARRY, ER HAT DEN WELTREKORD!»

 

Dieses Video hat mein Interesse an einem sonderbaren Phänomen der Videospielwelt entfacht, dem sogenannten Speedrunning. Ich kannte an sich schon die Grundfesten dieser Disziplin: Ein Spiel wird vom ersten Erscheinen der Firmenlogos beim Aufstarten bis zum Abspann komplett durchgespielt. Die Zeit wird dabei gemessen und es geht darum, möglichst schneller als beim letzten Mal zu sein; und natürlich auch schneller als andere Spieler. Ich wusste auch schon, dass die Spieler dabei beachtlich gut spielen müssen und das Spiel auf eine Art spielen, die für Normalsterbliche häufig nicht nachvollziehbar ist. Ein Erklärvideo zu einem einzigen Level von Super Mario gleicht etwa einer Vorlesung zu Quantenmechanik mit Erläuterungen zum Verhalten unbeobachteter Entitäten oder der mathematischen Realität von Paralleluniversen.

 

Doch etwas war mir in diesem Moment neu. Ich begann, ein zwischenmenschliches Element am Speedrun zu entdecken. Die sozialen Medien schienen wirklich sozial zu sein: Man gratulierte dem Speedrunner, man fertigte Zeichnungen an von ihm und seinem Erfolgsmoment. Die jubelnde Mutter bekam ebenfalls Publikum für ihre Streams, in denen sie backt und sich mit den Fans ihres Sohns unterhält. Ich stiess auf andere Speedrunner und deren Geschichten. Der beste Freund dieses Spielers etwa ist gebürtiger Trinidader und lebt in Spanien, wo er einen Friseursalon führt. Seine Geschichte ist geprägt von Homophobie im Heimatland und familiären Problemen. Doch als professioneller Gamer in seiner neuen Heimat blüht er regelrecht auf.  Die Brücke zwischen diesen beiden Lebensabschnitten war dabei das Speedrunning. Auch berührt mich das Motto des ersten Spielers: Sein Gaming-Pseudonym ist «Simply», das Motto dazu «Live simply». Etwas daran fühlt sich richtig und wichtig an; ich überlege nicht lange, bald habe ich schon einen Pulli von ihm bestellt, pink und mit dem Motto in supermariohaften Lettern vorne drauf.

 

Meine schnelle Begeisterung fürs Speedrunning ergibt dann Sinn, wenn man den zeitlichen Hintergrund bedenkt. Für mich ist meine Erfahrung im Speedrunning nämlich klar pandemisch. Man war zum einfachen Leben à la Simply praktisch gezwungen. Man hatte via Zoom noch alle Pflichten des normalen Lebens, aber bekam keinerlei Ausgleich dafür. Wochenenden waren nichts Besonderes mehr, alle Tage glichen sich. Die Vorhersehbarkeit meines Lebens tat meinem Gehirn sehr gut, doch leider schwand bald auch mein Gefühl vom Lebenssinn. In meinem Fall öffneten mir Videospiele die einengenden Mauern der Wohnung und boten mir daheim eine ausgleichende Unendlichkeit. Zum Beispiel in den weiten Steppen von «Breath of the Wild» oder eben durch das parasoziale Geschwindigkeits-Optimieren vom guten alten Mario 64. Das Wegfallen des Soziallebens bei gleichzeitigem Einkommen eines Nebenjobs und Wohnsituation bei den Eltern bedeuteten auch, dass sich Geld anstaute. In pandemischer Manier trug ich also Selbstspendierhosen und gönnte mir einen rasanten Einstieg ins Speedrunning; ich bestellte für insgesamt einige hundert Franken: eine originale, japanische Nintendo 64, eine japanische Kopie von Super Mario 64, einen originalen Controller wie auch einen unabhängig gefrankensteinten Controller, der das beste aus mehreren offiziellen Modellen kombiniert, ein N64-Modul, mit dem inoffizielle Spielkopien spielbar sind, konkret ein Speedrun-Trainingsmod, einen Bildschirm mit extra niedriger Latenz, um den Abstand zwischen Knopfdruck und Reaktion minimal zu halten, einen Signal-Umwandler, um das N64-Signal auf den Computer und von dort ins Internet zu streamen und ein Fusspedal um die Zeit ohne Handablenkung zu stoppen.

 

Der klar pandemischste Aspekt am Ganzen ist die Menge an aufgewendeter Freizeit: Auf dem Trainingsmodul übe ich stundenlang die einzelnen Stellen des Spiels. Das können schwierige Übergänge oder spezielle Sprünge sein, die nur auf eine bestimmte Art klappen und bei leichter Variation des Winkels oder der Geschwindigkeit signifikant Zeit kosten. Die Erfahrung ähnelt sehr stark dem Üben eines Instruments. Man füttert das gedankenlose Wesen in sich, das nur Bewegungsabläufe kennt. Man übt Übergänge und prägt sich Rhythmen ein. Wie ein Instrument macht Fortschritt auch gehörig Spass. Man beginnt, immer kleinere Nuancen zu beachten und für das gewisse Etwas im Endprodukt zu optimieren. Die eigene kognitive Erfahrung des Spiels ändert sich, man nimmt es in Zeitlupe wahr; es ist die Entdeckung der Schnelligkeit. Aber auch die Entdeckung des eigenen Innenlebens: Man lernt, seine Adrenalinausschüttungen bewusst wahrzunehmen und deren Wirkung für sich zu benutzen. Denn wenn es gut läuft, wird man in einen Wirbelwind der Emotionen geworfen, während das furiose Finale immer näher kommt – damit ist irgendwie umzugehen, wenn man das grosse Ziel der neuen Bestzeit erreichen will. Wie beim Lernen eines Instruments schaut man besseren Spielern grösstenteils bewundernd und inspiriert zu, manchmal aber auch neidisch. Nur vereinzelt gibt es da das Phänomen des hochbegabten sechsjährigen Kindes, das einem das Ego ramponiert.

 

Denn Speedrunning ist grösstenteils ein Phänomen der jungen Männer in ihren Zwanzigern. Ich verwende darum bewusst männliche Formen in diesem Text, wobei ich krude Spekulationen über den Geschlechtsunterschied vermeiden möchte. Vielmehr geht es mir um die Bedeutung der Altersstufe. Wieso gibt es kaum Kinder unter den Speedrunnern? Zum einen hält man Kinder von Videospielen eher fern, bzw. lässt ihnen nicht die nötige Zeit aufwenden, um auf so einem Niveau zu spielen. Zum anderen braucht man die erwähnte nervliche Festigkeit, die als Adoleszent womöglich schwerer aufzubauen ist. Meines Erachtens spielt aber auch Folgendes keine mindere Rolle: Die wenigsten Kinder spielen mit einem solchen Optimierungsdrang, der selbst den intendierten Rahmen des Spiels sprengt. Sie bleiben im Rahmen des Spiels, weil Kinder meist eine Spiel-Phantasie aufrecht erhalten wollen, während Speedrunner keine Phantasie erst aufbauen. Letztere sehen das Spiel als trockene Software. Passend dazu kann man Stefan Zweig zitieren, wenn er seinen Erzähler der Schachnovelle beobachten lässt, dass Schachmeister ihr Spiel nicht mehr spielen, sondern «ernsten». Die Phantasie in einem Videospiel lebt auch davon, dass man dem Spiel lebensechte Qualitäten zuspricht wie Zufall, Eigenwille seiner Wesen und Unkenntnis über die zugrundeliegenden – ja schöpferischen – Prozesse jener Welt. Ein Speedrunner ist ein Häretiker, der diese Höhle verlässt und der zerfallenden Illusion nicht hinterhertrauert. Er ist unverschämt erwachsen.

 

Aber weshalb dann speedrunnen statt spielen? Eine kompetitive Disziplin mit sozialem Netzwerk dahinter erfüllt unseren Wunsch nach Zugehörigkeit und linearer Progression. Man hat seine zweckgerichtete Gruppe und wird in ihr, mit ihr, zunehmend besser in der gemeinsamen Aktivität. Als Einzelner beeinflusst man aber auch die Gruppe: Die Bestzeiten fallen stetig auf neue Rekordtiefen, weil die Speedrun-Gruppen gemeinsam neue Strategien finden und sich gegenseitig motivieren, immer schwierigere Dinge zu erlernen. Die Community erstellt einschlägige Wissens-Ressourcen, um Neulingen den Einstieg in die aktuelle Forschungslage zu erleichtern. Das Niveau eines Individuums wird fast gänzlich vom Niveau der Gruppe bestimmt und nicht etwa von Begabung oder früherer Erfahrung im Spiel. Denn wenn eine Leistung, eine Bestzeit, erreicht wurde, so ist bewiesen, dass sie grundsätzlich möglich ist. Das befeuert die Motivation und den Mut der anderen Teilnehmer und bald darauf hat sich das Niveau der ganzen Gruppe nach oben hin angepasst. Kollektiver Fortschritt ist also möglich und direkt erlebbar. Es ist schwer auszudrücken, wie sehr das einen beeinflusst und mitzieht. Ferner, all das kann womöglich auch eine Antwort auf die individuellen Krisen der eigenen Zwanziger sein: Zu wem gehöre ich? Was ist mein Hintergrund und zu wem macht er mich? Wozu will ich mich anstrengen, was gibt mir Erfüllung? Die Antworten können gesellschaftlich konform sein in Form von prestigiösen Fächern, die man studieren möchte, oder nützlichen/anerkannten Berufen. Oder sie können, womöglich zum Trotz, nicht konform sein. Kompetitive Videospiele bewirken eine ähnliche Dynamik wie Sportarten, sind aber körperlich eher belastend als erquickend und geniessen dadurch in der Regel kein gesellschaftliches Prestige. Produktiv in irgendeiner Auslegung des Wortes sind sie ebenfalls nicht. Und entgegen meiner Ausführung zu Speedrunning als erwachsen-ernste Disziplin wirken Videospiele nach aussen hin eher kindlich oder gar kindisch. Das Speedrunning ist womöglich eine kombinierte Wunscherfüllung: gleichzeitig Sinn, Zugehörigkeit und Fortschritt erleben, wie auch zurück zu den Spielen der Kindheit zu kommen. Das ist jedenfalls mein Versuch einer Erklärung, doch ich kann nicht behaupten, die Beweggründe der vielen anderen Spielern zu kennen. Letzten Endes habe ich nur mich erlebt in dieser Zeit. Ich kann nicht verleugnen, durchaus isoliert und grösstenteils mit mir selbst beschäftigt gewesen zu sein.

 

Für mich war Speedrunning nicht nur ein soziales Pandemie-Pflaster, es war auch ein letztes Hurrah des unverschämten Spielens. Ich steuerte auf grosse Schritte zu: Verfassen der Masterarbeit in meinem Lieblingsforschungsbereich, von Zuhause ausziehen und Beginn einer akademischen Karriere. Dank der Pandemie werde ich Videospiele zwar behalten, aber wohl nicht mehr im kindstypischen, überschwänglichen Maß. Statt stundenlangen Ergründungen der Fantasiewelten eher ein/zwei kurzweilige Stunden der Ablenkung. Es sei aber gesagt, dass diese Kursänderung nicht völlig willentlich war. An sich hatte ich durchaus vor, meine Bestzeit in Mario weiter zu senken; den besten Schweizer wollte ich darin schlagen. Doch als nach der Pandemie mein Sozialleben wieder begann, ich aufgeschobene Projekte in Angriff nahm und allgemein nur noch selten ganze Tage am Stück unverplant geniessen konnte, da war es nicht mehr möglich Mario dergestalt zu ernsten. Diese Veränderung war nicht nur logistischer Natur, es lag auch an der entfallenen Monotonie, die mich erst zum Speedrunning brachte. Es gibt jetzt keine seelische Lücke mehr, die ich damit stopfen muss. Und während das eine positive Entwicklung ist, so vermisse ich doch dieses einzigartige Gefühl von damals. Ein Gefühl, das ich im Ausdruck «Die Einsamkeit des Langstreckenläufers» gut beschrieben finde. Ich möchte noch hinzufügen: Wir müssen uns den einsamen Langstreckenläufer als einen glücklichen Menschen vorstellen.