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Wovon erzählt Miyazaki, wenn er von Kindheit erzählt? Ein Kommentar zu “Chihiros Reise ins Zauberland”

Hintergrund

 

Hayao Miyazaki ist eine Koryphäe in seinem Gebiet, nämlich dem Animationsfilm. Zunächst hatte er als Manga-Zeichner seine Karriere begonnen, bevor er dann zusammen mit Isao Takahata Anime mitproduzierte, darunter den TV-Klassiker Heidi. Takahata, später Regisseur von Filmen wie Grave of the Fireflies und Prinzessin Kaguya, wurde zu seinem engsten Verbündeten, aber auch Konkurrenten. Die beiden arbeiteten unter anderem für die Firma Toei Animation, wo Miyazaki zum Gewerkschaftsführer wurde. Später gründeten sie 1985 mit dem Anime-Producer Toshio Suzuki das berühmt-berüchtigte Studio Ghibli. Miyazaki war also vom Gewerkschafter zum Chef geworden.

 

Und was für ein Chef. Eine Mitarbeiterin sagte anonym: «Wenn du hier überleben willst, halte dich fern von ihm.» Miyazaki selber beklagt sich häufig, dass er im Leistungsdruck sehr streng werden kann. Er habe schon etliche Jungtalente «verschlungen». Während diese ihn jung halten, altern sie selber dafür rapide, erzählt er. Was Miyazaki für ein Chef ist, das können wir hierzulande nur erahnen. Er hat die Hochzeitszeremonie einer Angestellten durchgeführt, er hat eigens für die Kinder der gesamten Belegschaft einen Kindergarten entworfen und bauen lassen. Beides scheint in der japanischen Arbeitskultur nicht unüblich zu sein, zeigt aber wie väterlich Miyazakis Rolle bei der Arbeit ist. Das spiegelt sich in seinen Filmen wieder.

 

Mit Mein Nachbar Totoro, Kikis kleiner Lieferservice und Prinzessin Mononoke hat er eigenwillige und toughe Heldinnen, klein und gross, mit viel Empathie auf die Leinwand gebracht. Ja, es sind Kinderfilme, doch der Filmkritiker Roger Ebert trifft es mit folgender Beobachtung sehr gut: Üblicherweise werden Filme für Zehnjährige als Filme ‘für die ganze Familie’ verkauft. Miyazaki hingegen meine ganz unschuldig, er produziere nur für Zehnjährige, begeistere dann aber die halbe Welt und liefere mehr als genug Stoff für eine jahrzehntelange Auseinandersetzung damit. In seinen Filmen dominierten eben nicht nur die Themen der Kindheit. Mit Filmen wie Nausicaä oder Das Schloss im Himmel hatte er seinen Umweltschutzanliegen klaren Ausdruck verliehen. Auch thematisiert er seine Leidenschaft fürs Fliegen und seine Kriegstraumata. Die japanische Religion des Shinto ist ebenfalls oft präsent. Nichts ist bei ihm trivial oder ironisch; er spart niemals mit der Substanz, nur weil er ein Kinderpublikum im Sinn hat.

 

Und dann war seine Karriere, bereits nach einem guten Jahrzehnt im eigenen Studio, auch schon zu Ende; er hatte sich für einen frühzeitigen Ruhestand entschlossen. Abgesehen von Chihiros Reise ins Zauberland, für den er ausnahmsweise aus dem Ruhestand zurückkam. Und dann aber erneut für einen nächsten Film; und das wiederholte Male. Bislang hat er im Ruhestand schon vier Filme produziert, der fünfte kommt nächstes Jahr ins Kino. Das ist dann knapp die Hälfte seiner Spielfilme gewesen.

 

Zur Entstehung von Chihiros Reise: Es begab sich früh in diesem vermeintlichen Ruhestand, dass ihn ein Freund mitsamt Frau und Kinder besuchte. Miyazaki war milde darüber entsetzt, wie dieser Freund über das Essen herfiel. Erfreulicher fand er die Gesellschaft der zehnjährigen Tochter. Sie sei zwar still und introvertiert gewesen, doch Miyazaki spürte in ihr die Kraft einer tiefen Gedankenwelt und Lebenslust. Die Mädchen-Mangas, die sie in Miyazakis Ferienhaus zurückgelassen hatte, fand er eine Zumutung für eine kluge junge Person wie sie. «Trivialer Ramsch», wetterte Miyazaki und verliess den Ruhestand. Kurzerhand zeichnete er dieses zehnjährige Mädchen ab und tatsächlich wurden ihr Konterfei und ihre Körpersprache zur Heldin Chihiro, die wir heute sehen werden. Auch der Vater mitsamt seiner gierigen Schlemmerei findet sich originalgetreu im Film wieder. Miyazaki zeichnete ohne Drehbuch direkt Szenen, sogenannte Storyboards, und liess diese dann animieren. Die Arbeit ohne Drehbuch äussert sich in der relativ lockeren Struktur des Films. Ein weiterer wichtiger Einfluss auf den Film war ein eigens für das Projekt komponierter Song (itsumo nando demo), den er bei der Arbeit häufig hörte. Dieses Lied schliesst den Film dann auch ab.

 

Filmkommentar

 

Chihiros Reise ins Zauberland, wie der Film auf Deutsch heisst, ist für praktisch alle in meiner Generation ein zutiefst nostalgischer Film. Ich betone hier meine Generation, weil es auffällig ist wie wenig schriftliche Publikationen es zum Film gibt, während die Online-Plattformen, wo sich meinesgleichen aufhält, etwa YouTube, voll sind mit langen Video-Essays dazu. Darin und in den Kommentaren dazu wimmelt es von guten Beobachtungen und Ideen, teils widersprüchlich und gewagt. Man betreibt eine klandestine, aber nicht minder tiefgründige Philologie. Der Grund für die Begeisterung ist dabei spürbar: Chihiro ist für viele eine der schönsten ästhetischen Erfahrungen ihrer Kindheit und wird assoziiert mit dem Gefühl von Staunen und Sehnsucht. Doch wonach sehnen wir uns, wenn wir uns nach diesem Zauberland sehnen? Wieso schwärmt man davon, wenn der Aufenthalt dort praktisch nur aus einer Serie von Traumata besteht?

 

Es geht schon traumatisch los: Chihiro hat sich gerade erst von ihren Freundinnen verabschiedet und ihr Abschiedsgeschenk, ein Blumenstrauss, beginnt bereits zu welken. Chihiro ist eine Figur mit wenig eigenen Charakteristika. Es lässt sich vielleicht sagen, dass ihre Pose im Auto passiv und spätere Bewegungen ungeschickt sind; dünn sind ihre Extremitäten und etwas zu gross ihre Schuhe und ihr Shirt. Chihiro verkörpert zu Beginn vor allem die schüchterne, unangepasste Kindheit. Ihre Eltern sind deutlich genauer charakterisiert und kritikabler. Respektlos brettert der Vater mit seinem ach-so-tollen Allradantrieb an den Shinto-Schreinen vorbei. An der Position des Lenkrads (links) sehen wir übrigens, dass er sich sein Gefährt teuer hat importieren lassen. Erst die ominös lächelnde Statue gebietet ihm Einhalt. Dass solche Statuen im Shinto die Schwelle zu anderen Welten markieren, verkennen die Eltern. Chihiro spürt aber an der Statue und am Wind, dass etwas im Busch ist. Auf dem scheinbar verlassenen Gelände spielt der Vater auf eine Wirtschaftskrise an und legitimiert danach seinen gierigen Verzehr von, übrigens, bedrohten Tierarten mit seinen Kreditkarten. Die Konsumkritik ist überdeutlich. Schweine verdichten den Aspekt des Konsums, da sie nicht nur dem Verzehr dienen, sondern auch selber aufs übermässige Fressen abgerichtet sind. Neben diesen eher modernen Themen beschwört die Szene auch klassischere Einflüsse wie Geister herauf: Sie basiert auf einer älteren japanischen Erzählung, in der Gäste eines Restaurants ihren eigenen Namen auf der Speisekarte entdecken. Die Verwandlung erinnert ausserdem an die antike Hexe Zirze, was nicht die einzige klassische Anspielung des Films bleibt. Direkter spürbar als die symbolische Ebene ist Chihiros Nichtwiedererkennen des eigenen Vaters, eine der gnadenlos unheimlichsten Filmszenen meiner Kindheit.

 

Die kombinierten Anspielungen auf den modernen Konsum und den alten Shinto bilden aber kein Gegensatz-Narrativ zwischen neuem und altem Japan. Das Zauberland ist viel direkter und übergriffiger ausbeuterisch als die Herkunft Chihiros. Kinderarbeit, das thematisiert Miyazaki wiederholt, war schon immer Bestandteil der vorindustriellen Arbeitswelt Japans. Auch wir kennen die traurige Geschichte der Schweizer Verdingkinder. Verdingung ist ein gutes Stichwort für die Arbeitswelt im Zauberland. Chihiro wird damit gedroht, ohne Arbeit nicht überleben zu können (Grave of the Fireflies von Miyazakis Kollegen Takahata klingt hier an); dasselbe gilt auch für die niedlichen Rußmännchen. Deren musikalisches Thema ist übrigens am Zauberlehrling von Dukas angelehnt, der Goethes Geschichte von arbeitenden Dingen wiedergibt. Der Ofen des Spinnenmannes Kamaji hat die Form eines Schweinekopfs und frisst unentwegt Kohle. So wird auch Chihiro zweimal mit einer Verwandlung gedroht: einmal in ein Ferkel und einmal in ein Stück Kohle. Das Zauberland frisst und spuckt aus, man selbst wird darin verdingt um zu arbeiten; oder alternativ um selbst gefressen zu werden. In jedem Fall verliert man bald vor allem aber eins: seinen Namen.

 

Der Verlust von Namen und die Suche danach sind ein Hauptmotiv im Film. Das musikalische Hauptthema wurde The Name of Life betitelt und eindrücklich sind die Szenen vom Namensraub und von Hakus späterem Erinnern. Das Namens-Motiv behandelt genauso das Thema der Verdingung. Der Anthropologe David Graeber betont häufig, wie der Verlust des Namens schon immer ein wichtiger Bestandteil der Versklavung war, etwa bei den antiken Römern – und er weiss noch viele andere Beispiele zu nennen. Zentral ist der damit einhergehende Verlust des sozialen Netzwerks. Die Essayistin Grace Lee verfolgt dieses Motiv durch die Weltliteratur von antiken Sagen über Joyces Ulysses bis hin zu Harry Potter. Vergessen wir nicht den Namensraub der Jüdinnen und Juden im dritten Reich, die ab 1938 beinahe alle Israel und Sara hiessen. Invers diskutiert man heutzutage die positive Macht der neuen Namen von Transgender-Menschen und die Gewalt ihrer alten Namen, das sogenannte Deadnaming. Chihiros Namen, sie hat nicht einmal genug Zeit, ihn korrekt zu Papier zu bringen, wird bedeutend gestutzt: Steht «Chihiro» noch für Neugier, wörtlich «tausend Fragen auf den Grund gehen», so bedeutet «Sen» nur noch «tausend». Sie wird sozusagen zu einer Nummer im System. Doch was für ein System? Das Badehaus sieht fürs westliche Publikum orientalisch aus und fürs japanische Publikum sieht es teils chinesisch, teils pseudo-westlich aus. In rotes Licht ist das Badehaus getaucht und niemand trägt seinen echten Namen, ganz wie das ein bestimmter Typ von Sklavin auch tut: die Prostituierten.

 

Ziemlich beliebt ist die Deutung des Badehauses als implizites Bordell. Selbst Miyazaki gibt zu, womöglich unbewusst darauf angespielt zu haben. Haku zischt am Anfang an Frauen am Eingang vorbei, die kichernd ihre aufwirbelnden Röcke unten halten. Die Körpernähe im Badehaus ist stets spürbar, an den Badegästen beobachten wir, wenn auch kinderfreundlich, dass sie Befriedigung erfahren. Noch direkter ist der Moment, als der vermeintliche Faulgott Chihiro an seinen «Stachel» führt, damit diese dort den Auswurf, also die Ejakulation, seines inneren Leidens herbeiführen kann. Eine Tat, die Chihiro die Anerkennung ihrer Kolleginnen beschert. Wie konkret oder abstrakt man diese Elemente deuten will, ist einem selbst überlassen. Die Verdingung und der volle Körpereinsatz zum Zwecke der Befriedigung von hierarchisch höhergestellten Gästen ist in jedem Fall der Modus Operandi im Badehaus.

 

Und damit kann Sigmund Freuds Triebtheorie gut in Verbindung gebracht werden. Die frühkindliche Sexualität ist von verschiedenen Phasen geprägt, darunter die orale und anale. Die dort entwickelten Formen der Triebbefriedigung werden in der späteren Adoleszenz der einen essenziellen untergeordnet, der genitalen. Bevor das geschieht, und bei nicht wenigen Menschen darüber hinaus, sind diese vielförmigen Perversionen noch ungebändigt. Wir können Chihiros Aufenthalt im Badehaus als Allegorie dafür verstehen. Sie leidet unter diesen polymorphen Trieben in Form der Badegäste und wird sich zur gesunden Sexualität in Form von Haku durchkämpfen. Dass das ein Kampf ist, versinnbildlicht die Auseinandersetzung mit dem Riesenbaby: Bleibt sie im Kleinkindzustand oder wird sie von Blut (in diesem Fall an ihrer Hand) davon befreit? Der Reifungsprozess ist auch voller Enttäuschungen, wie die weinende Mahlzeit vor dem Stall zeigt. Beide genannten Szenen beinhalten ein markantes Weinen. Ihre Eltern, die sie früher stillten, hören nun ihr verzweifeltes Rufen und Weinen nicht. Dennoch will sie, muss sie leben. Doch dafür muss sie sich noch trieblich wie ökonomisch befreien. Im Weg stehen ihr Exzesse von Oralität und Analität, die zugleich kapitalistische Exzesse sind. Vereint und verdichtet ist das, im übertragenen wie im buchstäblichen Sinn, in No-Face, dem Ohngesicht.

 

Dieses Ungeheuer gibt Chihiro eine Aufmerksamkeit, die sie nicht einordnen kann. Im Gegensatz zur elterlichen Mimik, ausdrucksstark und zutunlich, ist das Ohngesicht hochgradig ambivalent und befremdlich. Es buhlt mit verschiedenen Mitteln um ihre Aufmerksamkeit, versucht sie sich zu erkaufen. Zuerst versucht es das mit Wasser-Plaketten, die in ihrer Vielzahl aber nicht automatisch wertvoller sind. Dann erfährt das Ohngesicht am Beispiel des Flussgotts, wie wertvoll Gold ist. Der Flussgott hatte es gut gemeint und seine Geschichte hat eine Umweltschutz-Moral. Die Goldgier der Belegschaft gibt dem aber einen fahlen Beigeschmack, so auch die ominöse Geste vom Ohngesicht, als es den Zusammenhang begreift. Wie gesagt hat der orale Exzess, der darauf folgt, auch eine wirtschaftliche Bedeutungsebene. Beim Versprechen von Reichtum vergessen alle im Badehaus jegliches Maß, jegliche Wirtschaftlichkeit. Es wird überproduziert und vor allem in Überproduktion konkurriert. Dem Badehaus fehlt jede Struktur, alle kochen und servieren gleichzeitig so viel sie können, ziehen dabei nicht am selben Strang. Sie vergeuden dabei alle Ressourcen und übrig bleibt später der Ruin, wenn sich das Gold als ein wertloser Misthaufen entpuppt. Das ist eine bewusste Parallele zum japanischen Wirtschaftsboom der Achtzigerjahre und dem darauffolgenden Börsencrash, dessen Nachwirkungen bis heute nachwirken und als „die verlorenen Jahrzehnte“ bekannt wurden. Für Miyazaki ein einschneidendes und häufig zitiertes Ereignis. Chihiros Vater hatte exakt darauf angespielt, als er die scheinbar verlassenen Gebäude damit in Verbindung brachte. Das Zauberland ist der Geist dieses wirtschaftlichen Brachlandes. Und übrigens dürfte Chihiro recht genau zum Zeitpunkt der Krise geboren worden sein. Das spekulativ und verlustbringend gefütterte Untier verschlingt danach die Arbeiterschaft und droht Chihiro, das Kind der Krise, ebenso zu fressen. Aber nicht, wenn Chihiro mitzureden hat.

 

Sie hat ein klares Ziel: Haku. Sie entscheidet sich, das Ohngesicht prompt zurechtzuweisen und dann Haku zu helfen. Sie hilft beiden gleich, mit der Medizin, doch das Einführen gegen Hakus Widerstand erinnert an kindliches, protosexuelles Tollen. Es ist ausserdem der Wendepunkt der Handlung, denn ab da besteht Chihiros Geschichte nicht mehr aus Reaktionen auf ihre Umstände, sondern ist von ihren eigenen Entscheidungen bestimmt. Eine solche Entscheidung ist die Suche nach Vergebung von Zeniba und damit die erste eigene Zugfahrt.

 

Und, ach, was für eine Szene das ist! Ich denke, unsere Nostalgie zum Film strahlt von hier aus. Chihiros Entwicklung ist in vollem Gange, die erste Zugreise ist auch ein wichtiger Moment im Erwachsenwerden. Der nur in eine Richtung fahrende Zug ist darum voller Bedeutung. Nach dem Anthropologen Victor Turner sind Orte wie Bahnhöfe und Züge liminal, also Grenz-Orte. An ihnen ist die Realität durchlässig, wir verändern uns dort und verweilen nicht. Dazu passt auch der leere Bahnhof zu Beginn des Films. Die Szene ist getaucht in eine deutliche Melancholie. Denn das Erwachsenwerden gibt einem manchmal das Gefühl von Leere: Die Landschaft ist wie die gähnende Leere der vergessenen Erinnerungen und der noch bevorstehenden Zukunft. Wir sehen ein einsames Haus im Meer – ich kenne allein vier Leute, die dieses Haus schon als Hintergrund auf dem Handy und/oder Computer hatten, mich eingeschlossen, sich also damit identifizieren konnten – dieses Haus könnte die kleine Welt unserer Kindheit versinnbildlichen, als sich all unser Sein auf ein kleines Heim beschränkte. Ein Schatten-Mädchen steht auf einem Bahnsteig und schaut Chihiro nach; ist sie das fremd werdende Kind, das wir im Heranwachsen zurücklassen müssen? Die Reisenden sind anonym und durchsichtig; ist es das Verschwinden durch Identitätsverlust, durch Wirtschaftskrise, durch Atombombe, sind das liminale Wesen? Oder spiegeln sie und das Insel-Haus einfach unser Gefühl von Einsamkeit auf der Welt wieder? Denn einsam ist die Szene: Keine Miene bekommen wir zu Gesicht. Chihiro hat zwar Freunde bei sich, aber das sind, in verwandelter Form: das grotesk-gewalttätige Riesenbaby, der Über-Ich-Adler von Yubaba und das Ohngesicht. Im Leben sind manchmal unsere einzigen Freunde dieselben, die uns auch Leid antun. Doch auch eine andere Melancholie färbt die Szene: Die beiden Zwillingsschwestern Yubaba und Zeniba sind sich so ähnlich, aber die Dauer der Zugfahrt vergegenwärtigt, wie unterschiedlich sie im Leben wurden. Wie konnte Yubaba nur so werden?

 

Jedenfalls gut, dass es auch Personen wie Zeniba gibt. Denn zum ersten Mal in der Geschichte sind wir an einem Ort der Ruhe und Heimeligkeit angekommen. Chihiro bringt Zeniba ihr Siegel mit, ein im traditionellen Japan wichtiger Bestandteil der Identität. Yubaba hatte also auch so etwas wie einen Namensraub bei Zeniba geplant. Das Spiel mit der Identität haben die Hexenschwestern gemeinsam, doch das Ergebnis unterscheidet sich massgeblich. Yubaba sucht zu verdingen und zu verschlingen, Zenibas Zauberei hingegen bestärkt Identität. Das Baby wollte in seiner ersten Szene spielen. Das tut es als Maus, indem es Momente der Handlung nachspielt. Das Ohngesicht bekommt ein Zuhause. Beide Schwestern wertschätzen Arbeit, doch Zenibas Arbeit ist sinnstiftend und wird mit Omas Keksen sehr fair entlöhnt. Produziert wird Chihiros neuer Haarreif. Sie bringt ihre Haare damit unter Kontrolle, eine durchaus libidinös konnotierte Geste. Doch ist dieser Haarreif sozusagen auch ihr roter Faden im weiteren Leben. Er blitzt in entscheidenden Momenten der späteren Geschichte auf. Er markiert  ihren Lebenssinn, die Freundschaft, denn entstanden ist er nämlich in freundschaftlicher Zusammenarbeit und am Tag ihrer Begegnung mit Haku, ihrer Liebe. Das war das Ziel ihrer so lang erschwerten Entwicklung.

 

Der Ritt auf Haku ist nicht mehr protosexuell, sondern einfach sexuell. Fliegen ist bei Freud eine häufige Kodifizierung für Sex und fallen, wie «falling in love», ebenso. Ähnlich beliebt ist in der Literatur das Erzählmuster der innigen ewigen Bekanntschaft, so wie die beiden es haben. Die Musik dieser Szene trägt den Titel Reprise, wenngleich es ihr erstes Ertönen im Film ist. Chihiro liebt Haku und hatte ihn schon als Drachen erkannt; Yubaba hatte ihren eigenen Sohn als Maus nicht erkannt. Haku liebt Chihiro, denn er hat ihr in weiser Voraussicht ihre Eltern in Schweineform gezeigt und gemahnt, sich ihr Aussehen sowie ihren echten Namen genau einzuprägen. Mit diesem Wissen bewaffnet kann Chihiro auch gegen Yubaba so einfach gewinnen. Yubabas Plan, Chihiro mit einer List ewig an sich zu binden, scheitert kläglich. Zuerst wird die Hexe lautstark ausgebuht und dann macht das Baby klar, was Sache ist. «Bring Sen ja nicht zum Weinen, sonst habe ich dich nicht mehr lieb», warnt es die Matrone sinngemäss und zeigt damit die Macht dieser ad hoc gebildeten Gewerkschaft auf. Chihiro zieht es vor, Yubaba persönlich zu besiegen. Sie wählt ein eigenes, autoritäts-untergrabendes Wort für Yubaba aus und spricht dann sich und ihre Eltern frei. Es ist geradezu linke Magie, wenn sich der ausbeuterische Arbeitsvertrag darauf in Rauch auflöst. Im Siegesjubel sehen und hören wir auch eine schmatzende Liebkosung zwischen zwei Angestellten, die sich darauf zu Boden werfen. War Haku am Anfang noch verklärt, die Belegschaft xenophob und Chihiro entfremdet, so triumphieren jetzt die Freundschaft, die Liebe, die Solidarität.

 

Es ist ökonomische wie auch sexuelle Befreiung. Man kann also sagen: «Proletarier aller Zauberländer: Vereinigt euch!»

 

“Chihiros Reise” ist nicht zuletzt auch eine Geschichte über Solidarität unter Arbeitenden

Hintergrund

 

Hayao Miyazaki ist eine Koryphäe in seinem Gebiet, nämlich dem Animationsfilm. Zunächst hatte er als Manga-Zeichner seine Karriere begonnen, bevor er dann zusammen mit Isao Takahata Anime mitproduzierte, darunter den TV-Klassiker Heidi. Takahata, später Regisseur von Filmen wie Grave of the Fireflies und Prinzessin Kaguya, wurde zu seinem engsten Verbündeten, aber auch Konkurrenten. Die beiden arbeiteten unter anderem für die Firma Toei Animation, wo Miyazaki zum Gewerkschaftsführer wurde. Später gründeten sie 1985 mit dem Anime-Producer Toshio Suzuki das berühmt-berüchtigte Studio Ghibli. Miyazaki war also vom Gewerkschafter zum Chef geworden.

 

Und was für ein Chef. Eine Mitarbeiterin sagte anonym: «Wenn du hier überleben willst, halte dich fern von ihm.» Miyazaki selber beklagt sich häufig, dass er im Leistungsdruck sehr streng werden kann. Er habe schon etliche Jungtalente «verschlungen». Während diese ihn jung halten, altern sie selber dafür rapide, erzählt er. Was Miyazaki für ein Chef ist, das können wir hierzulande nur erahnen. Er hat die Hochzeitszeremonie einer Angestellten durchgeführt, er hat eigens für die Kinder der gesamten Belegschaft einen Kindergarten entworfen und bauen lassen. Beides scheint in der japanischen Arbeitskultur nicht unüblich zu sein, zeigt aber wie väterlich Miyazakis Rolle bei der Arbeit ist. Das spiegelt sich in seinen Filmen wieder.

 

Mit Mein Nachbar Totoro, Kikis kleiner Lieferservice und Prinzessin Mononoke hat er eigenwillige und toughe Heldinnen, klein und gross, mit viel Empathie auf die Leinwand gebracht. Ja, es sind Kinderfilme, doch der Filmkritiker Roger Ebert trifft es mit folgender Beobachtung sehr gut: Üblicherweise werden Filme für Zehnjährige als Filme ‘für die ganze Familie’ verkauft. Miyazaki hingegen meine ganz unschuldig, er produziere nur für Zehnjährige, begeistere dann aber die halbe Welt und liefere mehr als genug Stoff für eine jahrzehntelange Auseinandersetzung damit. In seinen Filmen dominierten eben nicht nur die Themen der Kindheit. Mit Filmen wie Nausicaä oder Das Schloss im Himmel hatte er seinen Umweltschutzanliegen klaren Ausdruck verliehen. Auch thematisiert er seine Leidenschaft fürs Fliegen und seine Kriegstraumata. Die japanische Religion des Shinto ist ebenfalls oft präsent. Nichts ist bei ihm trivial oder ironisch; er spart niemals mit der Substanz, nur weil er ein Kinderpublikum im Sinn hat.

 

Und dann war seine Karriere, bereits nach einem guten Jahrzehnt im eigenen Studio, auch schon zu Ende; er hatte sich für einen frühzeitigen Ruhestand entschlossen. Abgesehen von Chihiros Reise ins Zauberland, für den er ausnahmsweise aus dem Ruhestand zurückkam. Und dann aber erneut für einen nächsten Film; und das wiederholte Male. Bislang hat er im Ruhestand schon vier Filme produziert, der fünfte kommt nächstes Jahr ins Kino. Das ist dann knapp die Hälfte seiner Spielfilme gewesen.

 

Zur Entstehung von Chihiros Reise: Es begab sich früh in diesem vermeintlichen Ruhestand, dass ihn ein Freund mitsamt Frau und Kinder besuchte. Miyazaki war milde darüber entsetzt, wie dieser Freund über das Essen herfiel. Erfreulicher fand er die Gesellschaft der zehnjährigen Tochter. Sie sei zwar still und introvertiert gewesen, doch Miyazaki spürte in ihr die Kraft einer tiefen Gedankenwelt und Lebenslust. Die Mädchen-Mangas, die sie in Miyazakis Ferienhaus zurückgelassen hatte, fand er eine Zumutung für eine kluge junge Person wie sie. «Trivialer Ramsch», wetterte Miyazaki und verliess den Ruhestand. Kurzerhand zeichnete er dieses zehnjährige Mädchen ab und tatsächlich wurden ihr Konterfei und ihre Körpersprache zur Heldin Chihiro, die wir heute sehen werden. Auch der Vater mitsamt seiner gierigen Schlemmerei findet sich originalgetreu im Film wieder. Miyazaki zeichnete ohne Drehbuch direkt Szenen, sogenannte Storyboards, und liess diese dann animieren. Die Arbeit ohne Drehbuch äussert sich in der relativ lockeren Struktur des Films. Ein weiterer wichtiger Einfluss auf den Film war ein eigens für das Projekt komponierter Song (itsumo nando demo), den er bei der Arbeit häufig hörte. Dieses Lied schliesst den Film dann auch ab.

 

Filmkommentar

 

Chihiros Reise ins Zauberland, wie der Film auf Deutsch heisst, ist für praktisch alle in meiner Generation ein zutiefst nostalgischer Film. Ich betone hier meine Generation, weil es auffällig ist wie wenig schriftliche Publikationen es zum Film gibt, während die Online-Plattformen, wo sich meinesgleichen aufhält, etwa YouTube, voll sind mit langen Video-Essays dazu. Darin und in den Kommentaren dazu wimmelt es von guten Beobachtungen und Ideen, teils widersprüchlich und gewagt. Man betreibt eine klandestine, aber nicht minder tiefgründige Philologie. Der Grund für die Begeisterung ist dabei spürbar: Chihiro ist für viele eine der schönsten ästhetischen Erfahrungen ihrer Kindheit und wird assoziiert mit dem Gefühl von Staunen und Sehnsucht. Doch wonach sehnen wir uns, wenn wir uns nach diesem Zauberland sehnen? Wieso schwärmt man davon, wenn der Aufenthalt dort praktisch nur aus einer Serie von Traumata besteht?

 

Es geht schon traumatisch los: Chihiro hat sich gerade erst von ihren Freundinnen verabschiedet und ihr Abschiedsgeschenk, ein Blumenstrauss, beginnt bereits zu welken. Chihiro ist eine Figur mit wenig eigenen Charakteristika. Es lässt sich vielleicht sagen, dass ihre Pose im Auto passiv und spätere Bewegungen ungeschickt sind; dünn sind ihre Extremitäten und etwas zu gross ihre Schuhe und ihr Shirt. Chihiro verkörpert zu Beginn vor allem die schüchterne, unangepasste Kindheit. Ihre Eltern sind deutlich genauer charakterisiert und kritikabler. Respektlos brettert der Vater mit seinem ach-so-tollen Allradantrieb an den Shinto-Schreinen vorbei. An der Position des Lenkrads (links) sehen wir übrigens, dass er sich sein Gefährt teuer hat importieren lassen. Erst die ominös lächelnde Statue gebietet ihm Einhalt. Dass solche Statuen im Shinto die Schwelle zu anderen Welten markieren, verkennen die Eltern. Chihiro spürt aber an der Statue und am Wind, dass etwas im Busch ist. Auf dem scheinbar verlassenen Gelände spielt der Vater auf eine Wirtschaftskrise an und legitimiert danach seinen gierigen Verzehr von, übrigens, bedrohten Tierarten mit seinen Kreditkarten. Die Konsumkritik ist überdeutlich. Schweine verdichten den Aspekt des Konsums, da sie nicht nur dem Verzehr dienen, sondern auch selber aufs übermässige Fressen abgerichtet sind. Neben diesen eher modernen Themen beschwört die Szene auch klassischere Einflüsse wie Geister herauf: Sie basiert auf einer älteren japanischen Erzählung, in der Gäste eines Restaurants ihren eigenen Namen auf der Speisekarte entdecken. Die Verwandlung erinnert ausserdem an die antike Hexe Zirze, was nicht die einzige klassische Anspielung des Films bleibt. Direkter spürbar als die symbolische Ebene ist Chihiros Nichtwiedererkennen des eigenen Vaters, eine der gnadenlos unheimlichsten Filmszenen meiner Kindheit.

 

Die kombinierten Anspielungen auf den modernen Konsum und den alten Shinto bilden aber kein Gegensatz-Narrativ zwischen neuem und altem Japan. Das Zauberland ist viel direkter und übergriffiger ausbeuterisch als die Herkunft Chihiros. Kinderarbeit, das thematisiert Miyazaki wiederholt, war schon immer Bestandteil der vorindustriellen Arbeitswelt Japans. Auch wir kennen die traurige Geschichte der Schweizer Verdingkinder. Verdingung ist ein gutes Stichwort für die Arbeitswelt im Zauberland. Chihiro wird damit gedroht, ohne Arbeit nicht überleben zu können (Grave of the Fireflies von Miyazakis Kollegen Takahata klingt hier an); dasselbe gilt auch für die niedlichen Rußmännchen. Deren musikalisches Thema ist übrigens am Zauberlehrling von Dukas angelehnt, der Goethes Geschichte von arbeitenden Dingen wiedergibt. Der Ofen des Spinnenmannes Kamaji hat die Form eines Schweinekopfs und frisst unentwegt Kohle. So wird auch Chihiro zweimal mit einer Verwandlung gedroht: einmal in ein Ferkel und einmal in ein Stück Kohle. Das Zauberland frisst und spuckt aus, man selbst wird darin verdingt um zu arbeiten; oder alternativ um selbst gefressen zu werden. In jedem Fall verliert man bald vor allem aber eins: seinen Namen.

 

Der Verlust von Namen und die Suche danach sind ein Hauptmotiv im Film. Das musikalische Hauptthema wurde The Name of Life betitelt und eindrücklich sind die Szenen vom Namensraub und von Hakus späterem Erinnern. Das Namens-Motiv behandelt genauso das Thema der Verdingung. Der Anthropologe David Graeber betont häufig, wie der Verlust des Namens schon immer ein wichtiger Bestandteil der Versklavung war, etwa bei den antiken Römern – und er weiss noch viele andere Beispiele zu nennen. Zentral ist der damit einhergehende Verlust des sozialen Netzwerks. Die Essayistin Grace Lee verfolgt dieses Motiv durch die Weltliteratur von antiken Sagen über Joyces Ulysses bis hin zu Harry Potter. Vergessen wir nicht den Namensraub der Jüdinnen und Juden im dritten Reich, die ab 1938 beinahe alle Israel und Sara hiessen. Invers diskutiert man heutzutage die positive Macht der neuen Namen von Transgender-Menschen und die Gewalt ihrer alten Namen, das sogenannte Deadnaming. Chihiros Namen, sie hat nicht einmal genug Zeit, ihn korrekt zu Papier zu bringen, wird bedeutend gestutzt: Steht «Chihiro» noch für Neugier, wörtlich «tausend Fragen auf den Grund gehen», so bedeutet «Sen» nur noch «tausend». Sie wird sozusagen zu einer Nummer im System. Doch was für ein System? Das Badehaus sieht fürs westliche Publikum orientalisch aus und fürs japanische Publikum sieht es teils chinesisch, teils pseudo-westlich aus. In rotes Licht ist das Badehaus getaucht und niemand trägt seinen echten Namen, ganz wie das ein bestimmter Typ von Sklavin auch tut: die Prostituierten.

 

Ziemlich beliebt ist die Deutung des Badehauses als implizites Bordell. Selbst Miyazaki gibt zu, womöglich unbewusst darauf angespielt zu haben. Haku zischt am Anfang an Frauen am Eingang vorbei, die kichernd ihre aufwirbelnden Röcke unten halten. Die Körpernähe im Badehaus ist stets spürbar, an den Badegästen beobachten wir, wenn auch kinderfreundlich, dass sie Befriedigung erfahren. Noch direkter ist der Moment, als der vermeintliche Faulgott Chihiro an seinen «Stachel» führt, damit diese dort den Auswurf, also die Ejakulation, seines inneren Leidens herbeiführen kann. Eine Tat, die Chihiro die Anerkennung ihrer Kolleginnen beschert. Wie konkret oder abstrakt man diese Elemente deuten will, ist einem selbst überlassen. Die Verdingung und der volle Körpereinsatz zum Zwecke der Befriedigung von hierarchisch höhergestellten Gästen ist in jedem Fall der Modus Operandi im Badehaus.

 

Und damit kann Sigmund Freuds Triebtheorie gut in Verbindung gebracht werden. Die frühkindliche Sexualität ist von verschiedenen Phasen geprägt, darunter die orale und anale. Die dort entwickelten Formen der Triebbefriedigung werden in der späteren Adoleszenz der einen essenziellen untergeordnet, der genitalen. Bevor das geschieht, und bei nicht wenigen Menschen darüber hinaus, sind diese vielförmigen Perversionen noch ungebändigt. Wir können Chihiros Aufenthalt im Badehaus als Allegorie dafür verstehen. Sie leidet unter diesen polymorphen Trieben in Form der Badegäste und wird sich zur gesunden Sexualität in Form von Haku durchkämpfen. Dass das ein Kampf ist, versinnbildlicht die Auseinandersetzung mit dem Riesenbaby: Bleibt sie im Kleinkindzustand oder wird sie von Blut (in diesem Fall an ihrer Hand) davon befreit? Der Reifungsprozess ist auch voller Enttäuschungen, wie die weinende Mahlzeit vor dem Stall zeigt. Beide genannten Szenen beinhalten ein markantes Weinen. Ihre Eltern, die sie früher stillten, hören nun ihr verzweifeltes Rufen und Weinen nicht. Dennoch will sie, muss sie leben. Doch dafür muss sie sich noch trieblich wie ökonomisch befreien. Im Weg stehen ihr Exzesse von Oralität und Analität, die zugleich kapitalistische Exzesse sind. Vereint und verdichtet ist das, im übertragenen wie im buchstäblichen Sinn, in No-Face, dem Ohngesicht.

 

Dieses Ungeheuer gibt Chihiro eine Aufmerksamkeit, die sie nicht einordnen kann. Im Gegensatz zur elterlichen Mimik, ausdrucksstark und zutunlich, ist das Ohngesicht hochgradig ambivalent und befremdlich. Es buhlt mit verschiedenen Mitteln um ihre Aufmerksamkeit, versucht sie sich zu erkaufen. Zuerst versucht es das mit Wasser-Plaketten, die in ihrer Vielzahl aber nicht automatisch wertvoller sind. Dann erfährt das Ohngesicht am Beispiel des Flussgotts, wie wertvoll Gold ist. Der Flussgott hatte es gut gemeint und seine Geschichte hat eine Umweltschutz-Moral. Die Goldgier der Belegschaft gibt dem aber einen fahlen Beigeschmack, so auch die ominöse Geste vom Ohngesicht, als es den Zusammenhang begreift. Wie gesagt hat der orale Exzess, der darauf folgt, auch eine wirtschaftliche Bedeutungsebene. Beim Versprechen von Reichtum vergessen alle im Badehaus jegliches Maß, jegliche Wirtschaftlichkeit. Es wird überproduziert und vor allem in Überproduktion konkurriert. Dem Badehaus fehlt jede Struktur, alle kochen und servieren gleichzeitig so viel sie können, ziehen dabei nicht am selben Strang. Sie vergeuden dabei alle Ressourcen und übrig bleibt später der Ruin, wenn sich das Gold als ein wertloser Misthaufen entpuppt. Das ist eine bewusste Parallele zum japanischen Wirtschaftsboom der Achtzigerjahre und dem darauffolgenden Börsencrash, dessen Nachwirkungen bis heute nachwirken und als „die verlorenen Jahrzehnte“ bekannt wurden. Für Miyazaki ein einschneidendes und häufig zitiertes Ereignis. Chihiros Vater hatte exakt darauf angespielt, als er die scheinbar verlassenen Gebäude damit in Verbindung brachte. Das Zauberland ist der Geist dieses wirtschaftlichen Brachlandes. Und übrigens dürfte Chihiro recht genau zum Zeitpunkt der Krise geboren worden sein. Das spekulativ und verlustbringend gefütterte Untier verschlingt danach die Arbeiterschaft und droht Chihiro, das Kind der Krise, ebenso zu fressen. Aber nicht, wenn Chihiro mitzureden hat.

 

Sie hat ein klares Ziel: Haku. Sie entscheidet sich, das Ohngesicht prompt zurechtzuweisen und dann Haku zu helfen. Sie hilft beiden gleich, mit der Medizin, doch das Einführen gegen Hakus Widerstand erinnert an kindliches, protosexuelles Tollen. Es ist ausserdem der Wendepunkt der Handlung, denn ab da besteht Chihiros Geschichte nicht mehr aus Reaktionen auf ihre Umstände, sondern ist von ihren eigenen Entscheidungen bestimmt. Eine solche Entscheidung ist die Suche nach Vergebung von Zeniba und damit die erste eigene Zugfahrt.

 

Und, ach, was für eine Szene das ist! Ich denke, unsere Nostalgie zum Film strahlt von hier aus. Chihiros Entwicklung ist in vollem Gange, die erste Zugreise ist auch ein wichtiger Moment im Erwachsenwerden. Der nur in eine Richtung fahrende Zug ist darum voller Bedeutung. Nach dem Anthropologen Victor Turner sind Orte wie Bahnhöfe und Züge liminal, also Grenz-Orte. An ihnen ist die Realität durchlässig, wir verändern uns dort und verweilen nicht. Dazu passt auch der leere Bahnhof zu Beginn des Films. Die Szene ist getaucht in eine deutliche Melancholie. Denn das Erwachsenwerden gibt einem manchmal das Gefühl von Leere: Die Landschaft ist wie die gähnende Leere der vergessenen Erinnerungen und der noch bevorstehenden Zukunft. Wir sehen ein einsames Haus im Meer – ich kenne allein vier Leute, die dieses Haus schon als Hintergrund auf dem Handy und/oder Computer hatten, mich eingeschlossen, sich also damit identifizieren konnten – dieses Haus könnte die kleine Welt unserer Kindheit versinnbildlichen, als sich all unser Sein auf ein kleines Heim beschränkte. Ein Schatten-Mädchen steht auf einem Bahnsteig und schaut Chihiro nach; ist sie das fremd werdende Kind, das wir im Heranwachsen zurücklassen müssen? Die Reisenden sind anonym und durchsichtig; ist es das Verschwinden durch Identitätsverlust, durch Wirtschaftskrise, durch Atombombe, sind das liminale Wesen? Oder spiegeln sie und das Insel-Haus einfach unser Gefühl von Einsamkeit auf der Welt wieder? Denn einsam ist die Szene: Keine Miene bekommen wir zu Gesicht. Chihiro hat zwar Freunde bei sich, aber das sind, in verwandelter Form: das grotesk-gewalttätige Riesenbaby, der Über-Ich-Adler von Yubaba und das Ohngesicht. Im Leben sind manchmal unsere einzigen Freunde dieselben, die uns auch Leid antun. Doch auch eine andere Melancholie färbt die Szene: Die beiden Zwillingsschwestern Yubaba und Zeniba sind sich so ähnlich, aber die Dauer der Zugfahrt vergegenwärtigt, wie unterschiedlich sie im Leben wurden. Wie konnte Yubaba nur so werden?

 

Jedenfalls gut, dass es auch Personen wie Zeniba gibt. Denn zum ersten Mal in der Geschichte sind wir an einem Ort der Ruhe und Heimeligkeit angekommen. Chihiro bringt Zeniba ihr Siegel mit, ein im traditionellen Japan wichtiger Bestandteil der Identität. Yubaba hatte also auch so etwas wie einen Namensraub bei Zeniba geplant. Das Spiel mit der Identität haben die Hexenschwestern gemeinsam, doch das Ergebnis unterscheidet sich massgeblich. Yubaba sucht zu verdingen und zu verschlingen, Zenibas Zauberei hingegen bestärkt Identität. Das Baby wollte in seiner ersten Szene spielen. Das tut es als Maus, indem es Momente der Handlung nachspielt. Das Ohngesicht bekommt ein Zuhause. Beide Schwestern wertschätzen Arbeit, doch Zenibas Arbeit ist sinnstiftend und wird mit Omas Keksen sehr fair entlöhnt. Produziert wird Chihiros neuer Haarreif. Sie bringt ihre Haare damit unter Kontrolle, eine durchaus libidinös konnotierte Geste. Doch ist dieser Haarreif sozusagen auch ihr roter Faden im weiteren Leben. Er blitzt in entscheidenden Momenten der späteren Geschichte auf. Er markiert  ihren Lebenssinn, die Freundschaft, denn entstanden ist er nämlich in freundschaftlicher Zusammenarbeit und am Tag ihrer Begegnung mit Haku, ihrer Liebe. Das war das Ziel ihrer so lang erschwerten Entwicklung.

 

Der Ritt auf Haku ist nicht mehr protosexuell, sondern einfach sexuell. Fliegen ist bei Freud eine häufige Kodifizierung für Sex und fallen, wie «falling in love», ebenso. Ähnlich beliebt ist in der Literatur das Erzählmuster der innigen ewigen Bekanntschaft, so wie die beiden es haben. Die Musik dieser Szene trägt den Titel Reprise, wenngleich es ihr erstes Ertönen im Film ist. Chihiro liebt Haku und hatte ihn schon als Drachen erkannt; Yubaba hatte ihren eigenen Sohn als Maus nicht erkannt. Haku liebt Chihiro, denn er hat ihr in weiser Voraussicht ihre Eltern in Schweineform gezeigt und gemahnt, sich ihr Aussehen sowie ihren echten Namen genau einzuprägen. Mit diesem Wissen bewaffnet kann Chihiro auch gegen Yubaba so einfach gewinnen. Yubabas Plan, Chihiro mit einer List ewig an sich zu binden, scheitert kläglich. Zuerst wird die Hexe lautstark ausgebuht und dann macht das Baby klar, was Sache ist. «Bring Sen ja nicht zum Weinen, sonst habe ich dich nicht mehr lieb», warnt es die Matrone sinngemäss und zeigt damit die Macht dieser ad hoc gebildeten Gewerkschaft auf. Chihiro zieht es vor, Yubaba persönlich zu besiegen. Sie wählt ein eigenes, autoritäts-untergrabendes Wort für Yubaba aus und spricht dann sich und ihre Eltern frei. Es ist geradezu linke Magie, wenn sich der ausbeuterische Arbeitsvertrag darauf in Rauch auflöst. Im Siegesjubel sehen und hören wir auch eine schmatzende Liebkosung zwischen zwei Angestellten, die sich darauf zu Boden werfen. War Haku am Anfang noch verklärt, die Belegschaft xenophob und Chihiro entfremdet, so triumphieren jetzt die Freundschaft, die Liebe, die Solidarität.

 

Es ist ökonomische wie auch sexuelle Befreiung. Man kann also sagen: «Proletarier aller Zauberländer: Vereinigt euch!»

 

“Chihiros Reise” ist nicht zuletzt auch eine Geschichte über Solidarität unter Arbeitenden