Zwischen Auto-Erotik und Heterotopie: Fellinis Amarcord
Amarcord entstand gegen Ende von Fellinis Karriere und gilt als sein letzter wirklich erfolgreicher Film. Lang vorbei waren die Zeiten seiner Anfänge in Rom als Karikaturist und neorealistischer Filmemacher (La Strada, I Vitelloni). Der Neorealismus verstand sich als ein politisches Genre; er zeigte ungeschmückt schwere Schicksale in armen Milieus. Doch Fellini wandte sich mit der Zeit davon ab: Nicht mehr das harte Leben auf der «Strada», sondern lieber das süsse und sinnbefreite Leben der Elite zeigte er in La dolce vita. Mit diesem Skandal-Film hatte er linke Intellektuelle und die katholische Kirche gleichermaßen gegen sich aufgebracht. In den 60er-Jahren lernte er dann die Psychoanalyse kennen und begann mit dem Jungianer Ernst Bernhard, sich und seine Träume zu analysieren. Er machte in dieser Zeit auch einige Erfahrungen mit LSD. Seine Filme verloren darauf gänzlich den Anspruch auf Realismus und politischen Gehalt. Zuerst verarbeitete er diese kreative Neuorientierung mit dem selbstironischen Film Otto e mezzo, einer filmgewordenen Schaffenskrise, und schuf in den folgenden Jahrzehnten so irrwitzig-kunterbunte wie geistreich-geniale Werke, darunter: Giulietta degli spiriti, Il Casanova, La citta delle donne und sein Satyricon. Sein Stil wurde karnevalesk, clownesk und grotesk. Die Phantasie triumphierte über den Realismus. Er castete junge Rebellen, schräge Witzfiguren und sogar mitunter Obdachlose als Schauspieler für seine Filme. Das Kino Fellinis war ein Karneval geworden.
Zur Entstehung von Amarcord: Es trug sich gegen Ende der Sechzigerjahre zu, dass Fellini todkrank im Spital lag. Zumindest hatten ihn die dortigen Ärzte für todkrank erklärt. Fellini setzte auf «Vitamin B» und liess über seine Kontakte einen Oberarzt aus seiner Heimat anreisen. Tatsächlich stellte dieser eine deutlich mildere (und auch korrekte) Diagnose, aber wichtiger noch: Es war das erste Mal seit Jahrzehnten, dass Fellini den Romagnolo-Dialekt seiner Heimat wieder hörte. Nach der Todesangst überkam ihn stattdessen ein mächtiges Gefühl von Nostalgie. Der Begriff Nostalgie, wörtlich «Heimatsschmerz», wurde geprägt, um das Gefühl von Schweizer Söldnern zu beschreiben, die sich im Ausland nach ihrer Heimat sehnten. Während es also ursprünglich als ein rein räumliches Sehnsuchtsgefühl verstanden wurde, versteht man heutzutage darunter meist eine zeitliche Sehnsucht nach der Vergangenheit. Fellinis Nostalgie war sogar beides: Im zweiten Weltkrieg wurde seine Heimatstadt Rimini so dermassen verwüstet, dass nur 2% der Gebäude stehen blieben. Darauf wurde die Stadt mit Hilfe der Amerikaner neu aufgebaut, diesmal mit riesigen Vergnügungs-Anlagen der Küste entlang. Fellini hat Rimini insgesamt nur zweimal als Erwachsener besucht: einmal kurz nach dem Krieg und dann erst nach jenem schicksalshaften Spitalaufenthalt 20 Jahre später. Von seiner Kindheit war in Rimini nichts mehr übriggeblieben, Fellini erkannte eigentlich nur noch den Dialekt wieder, so schreibt er. Alles war neu; die Stadt war bunter und lebhafter als früher, vor allem durchmischter.
Doch wie Fellini dem Treiben im neuen Rimini zusah, fiel ihm ein unangenehmer Kontrast auf. Während die Jugend dort freisinnig, freigeistig und freizügig wirkte, fielen ihm die Alten durch ihre gewaltige Verklemmtheit auf. Eines Morgens sieht er eine junge Frau in Minirock über eine Piazza gehen. Hinter ihm grummeln zwei alte Männer etwas davon, wie provokant sich «solche Frauen» doch anziehen. Er zitiert die Männer weiter: «Packt man sie und drückt sie an die Wand, kommt sofort die Polizei. Aber wieso provozieren die dann so?». Fellini schämt sich da für seine Generation. Darüber, wie sie ihr Verlangen nur vergewaltigend imaginieren können – im besten Fall – und es im schlimmsten Fall gar genauso umsetzen. Er überlegt, wer oder was diese Männer seiner Generation denn so verkorkst werden liess. Zu seiner positiv gestimmten Nostalgie nach seinem Kindheits-Rimini gesellen sich somit auch düstere Erinnerungen.
All das verarbeitete Fellini kreativ: Dem Ergebnis gab er den Namen «Amarcord», was im Dialekt seiner Heimat «ich erinnere mich» bedeutet. Es ist Fellinis eigener Blick in eine verlorengegangene Vergangenheit; im Folgenden eine Serie von Beobachtungen und Analysen dazu.
Amarcord ist, wie ich finde, ein höchst ambivalenter Film. Die Musik lullt uns zwar ein, vermittelt den eingangs erwähnten Charme der Bella Italia, singt von positiver Nostalgie. Fellini selber verliert Zeit seines Lebens aber niemals ein einziges positives Wort über den Inhalt des Films. «Von Ablehnung und Trostlosigkeit» handle der Film ihm zufolge. Diese Ambivalenz beschränkt sich nicht nur auf Amarcord. Immer wieder lobt man Fellinis Œuvre für seinen Humanismus und seine Empathie. Gleichzeitig wird Fellini dafür kritisiert, wie abstossend und unmoralisch viele seiner Figuren sind. Das gilt auch für die heutige Kritik an seiner Darstellung von Frauen. Ein Fellini-Experte beschwert sich über ein sogenanntes «Social Justice Movement», welchem Fellini jetzt zum Opfer falle. Ich sehe das anders: In einem Gespräch meinte eine sehr engagierte, feministische Freundin von mir, mit welcher ich auch schon über moralisch fragwürdige Kunst diskutiert hatte: «Fellini? Fellini ist mein Gott.»
Wie passen diese unterschiedlichen Stimmungen und Wertungen zu Fellini? Ich habe es in der Einleitung angesprochen: Fellinis Kino ist ein Karneval. Man kann unterschiedlich auffassen, was dieses Wort bedeutet. Ich fasse es mit Hilfe des Literaturtheoretikers Mikhail Bakhtin zusammen. Karnevalesk ist, was der breiten Masse eine Stimme gibt, dergestalt dass auch die ansonsten Stimmlosen heiter hörbar sind; also sozusagen völlige Inklusion. Das Karnevaleske unterscheidet nicht, es lacht kunterbunt und widersteht jeder Kritik und Interpretation. Es ist zudem ein rebellischer Akt, es stürzt Ordnung um, aber ohne sie nachhaltig zu zerstören. Mehr noch, durch die Auflösung und Wiederherstellung der normalen Ordnung wird diese letzten Endes bestärkt. Ein Karneval ist stets ein zutiefst körperlicher, und damit menschlicher, Akt. Das Karnevaleske ist kein anhaltender Zustand, sondern ein zeitlich begrenzter Anlass, wodurch er wiederum die Zeit und das menschliche Miteinander ordnet. In Fellinis Œuvre sind Karnevale allgegenwärtig. Sie sind mitunter der Grund, wieso Fellinis Filme wenig bis keine Kernaussagen besitzen. Bakhtin schreibt auch, dass ein Karneval nicht weiter gross analysiert werden muss oder kann. In Amarcord ist der Karneval formgebend: Der Film definiert sich nicht nach der Handlung, sondern durch die Jahreszeiten und diese wiederum durch ihre Feste, also ihre Karnevals. Im Sommer ist das patriotische Fest mit Faschistenparade, im Herbst das Autorennen und im Frühling die Fogaraccia, auf der die Winterhexe verbrannt wird. Das erwachsene Leben beginnt mit dem Hochzeitsfest und endet an der Bestattung; beide Feste markieren das Ende des Films. An den Festen ist die ganze Gesellschaft versammelt, übertritt Anstandsgrenzen und ist allgemein so richtig ausgelassen und blöde. Noch blöder, als wenn die Figuren alleine auftreten.
Wobei das wiederum nicht für alle gilt. Die Bestattung ist natürlich nicht so heiter (wenngleich doch mit Rührseligkeit überzeichnet), und eine Reihe von Figuren in Amarcord ist eigentlich durchgehend speziell, nicht nur in den Karnevalsszenen: Immer sind sie wild, ungestüm, überzeichnet und übergeschnappt. Sie sind der zweite Grundpfeiler des fellinesken Kinos: Clowns. Fellini befasste sich Zeit seines Lebens mit ihnen, widmete ihnen auch einen eigenen Film. Dem märchenerzählenden Strassenverkäufer sieht man sein Dasein als Clown am ehesten noch an mit seiner roten Nase und dem bleichen Gesicht. Doch ich kann mir eine bestimmte Figurengruppe im Film nur so erklären, indem ich sie als Clowns interpretiere: Ich meine damit die Lehrer. Wie würde uns ein Clown einen Pendel erklären? «Ja, das ist wie die Uhr, tick-tack, tick-tack!» Die alkoholisierte Literaturlehrerin markiert schwierige Wörter mit ihrem debilen Sing-Sang – der Inhalt stimmt dabei hinten und vorne nicht. Wenn ein Clown über den faschistischen Geist spricht, darf der pathetisch-parodierende Donner dabei nicht fehlen. Ein anderer Lehrer-Clown spricht und rennt sich so in Rage, dass er in der Klassenzimmer-Ecke verschwindet. Und wer kennt sie nicht, die Clowns-Duos, in denen einer ständig verärgert wird vom dümmlichen Mit-Clown, der ersterem die Show vermasselt? Ich denke da an die Altgriechisch-Lektion. Die Schulsequenz sehe ich als Versuch Fellinis, traumatische Episoden seiner Schulzeit zu verarbeiten, indem er sie als eine Serie von aggressiven Clownereien darstellt. Und traumatisch sind schlechte Lehrer allemal, besonders wenn man mit ihnen im Konflikt steht. Titta, Fellinis bester Freund, erzählt: «Federico war stets ehrlich, clever und direkt. Er war das Gegenteil seiner faschistischen Lehrer.» Man versetze sich also in die Position Fellinis. Er sah zu, wie die rückständige Landbevölkerung vor seinen Augen von inkompetenten Knallchargen zum Faschismus indoktriniert wurde. In dem Moment ist das natürlich alles andere als witzig. Die Aussage eines Faschisten im Film während des Verhörs «Wir schlagen euch die Schädel ein, bis ihr endlich begreift, dass wir nur das Beste für euch wollen» ist auch nur rückwirkend betrachtet wirklich witzig; nicht in der Situation selber, in der sich Tittas Vater befindet. Wenn man mit einer nostalgischen Linse alles Bedrohliche der Faschisten herausfiltert, so bleiben eben Clowns übrig. «Später werden wir noch drüber lachen», sagt man im deutschen Volksmund in besonders unangenehmen Situationen. Das trifft auf Fellinis Umgang mit seinen Traumata völlig zu. Darum sehen wir im Film Mobbing, sexuelle Übergriffe, politische Repression und sogar Folter, ohne den emotionalen Gehalt, der ansonsten diese Dinge begleitet. Vielleicht wirkt dadurch Fellini manchmal unangebracht und moralisch grenzwertig. Doch seine Schaffensart ist, finde ich, unsterblich: Auch uns könnte es gut tun, Aktuelles Geschehen, aktuelle Ideen, wie einen Zirkus voller Clowns zu rezipieren.
Weniger clever als es Fellini wohl war, aber umso direkter, ist die Rebellion der Schüler gegen die Lehrer. Mit Fäkalhumor stinken sie gegen die Ordnung des Schulalltags an, mit Furzgeräuschen gegen Altgriechisch, mit echten Fäkalien gegen Algebra. Nichts entschärft faschistischen Pathos eben besser als die karnale Unrühmlichkeit des menschlichen Körpers, fein ausgedrückt. Etwas haben im Film die Kinder und die Faschisten allerdings gemeinsam. Die Schulsequenz beginnt mit einer Horde von Kindern, die um die Ecke stürmt. Der autoritäre Schulrektor bremst sie grollend aus. Die Faschisten kommen ebenso um eine Ecke gerannt. Sie bleiben hingegen ungebremst. Im Gegenteil, sie wirbeln beim Rennen eine Nebelwolke auf und die Leute laufen benebelt hinterher. Körperlich ist die Parade ebenfalls: Nicht nur durch körperliche Betätigung, sondern auch durch Schwärmerei vom Körper des Duce und durch die Geschlechtssymbolik, wenn die Mädchen ihre Reifen und die Jungs ihre Gewehre emporrecken. Und überhaupt, die faschistische Parade schliesst an die Masturbationsszene im Auto an. Fellini macht hier offensichtlich, was Wilhelm Reich in seinem Text über die Massenpsychologie des Faschismus schon früh erkannte:
Der Faschismus ist zugleich sexuell geladen und sexuell repressiv. Laut Reich speise sich der Faschismus aus einem Rebellentum, was unter anderem nötig mache, dass der Faschismus sexuelle Frustration fördert, insbesondere bei jungen Männern – ich erkenne diese Dynamik im heutigen Internet häufig wieder. Die Ausgleichs-Aktivitäten für den faschistischen Menschen wie die soldatenhafte Brüderlichkeit und ebenjene Paraden bekommen damit ihren erotischen Touch und Rhythmus. Das bekommen wir zu spüren, indem fast jede Szene des Films starke sexuelle Komponenten hat, wir aber keine einzige gesunde und erfüllte Sexualität zu sehen bekommen. Eindrücklich ist da die Szene, in der die Kutsche mit Prostituierten durch die Promenade fährt. Es ertönt die Melodie «La cucaracha», dabei zeigt die Kamera in einer gleitenden Einstellung einen Querschnitt der Gesellschaft, die zugleich vom Anblick betört ist und der Kutsche doch fernbleiben muss. Wie man in dieser Szene an den Kruzifixen im Hintergrund sehen kann, die noch lange ins Fade-Out leuchten, spielt die katholische Kirche für jene Frustrationsdynamik eine zentrale Rolle. Sehr schnell kommt der Priester bei der Beichte der Jungs auf die Masturbation zu sprechen. Doch auch hier widersetzen sich die Jugendlichen dem starken Arm der Autorität: Wir bekommen in dieser Szene Einsicht in ihre gemeinsamen Ausflüge an das Siegesdenkmal oder den Bauernmarkt, beide in fellinesker Façon gewidmet der Bewunderung von Gesässen. Nicht zuletzt auch ihr Treffen im Auto, um sich bei der Selbstbefriedigung gegenseitig ihre Sexualobjekte mitzuteilen. Der Kirche gelingt also die Dämonisierung der Masturbation im Film nicht, sie erreicht aber durch den Versuch ihr eigentliches Ziel: den Sinn für Gemeinschaft herzustellen. Die Jugendlichen zelebrieren ihre Gemeinschaft in der Sünde. Und dennoch: Ihre Sexualität bleibt buchstäblich auto-erotisch.
Der arme Onkel Teo treibt es mit seiner Frustration, wiederum buchstäblich, auf die Spitze. «Voglio una donna!» – er schreit heraus, was alle anderen im Film denken und fühlen. Doch gerade er hat noch viel weniger Aussichten auf Liebe und Erotik im Leben. Interessant ist dabei, dass Fellinis Vater auf einem solchen Bauernhof aufwuchs und dass Fellini sich auf diese Szene beruft, um Amarcord als „Film voller Ablehnung“ zu bezeichnen. Beinahe beängstigend wirkt dann das dümmliche Bauernkind, das sich auf einen Esel glotzend selber schlägt, sowie der Junge, der sein kleines Geschwisterlein in der Wiege ermorden will. Irgendwie passt auch Onkel Teo mit seiner verzweifelten Rebellion auf den väterlichen Bauernhof; wir sehen den Vater ja auch völlig resignieren. Teo mag wahnwitzig wirken, doch herrscht ein interessanter Kontrast zwischen ihm und dem deutschen Adligen, der das Grand Hotel besucht („Il Principe“). Beide vogliono una donna, der Prinz muss das allerdings nicht sagen. Mehr noch, er bekommt direkt eine Frau offeriert: die Gradisca, die in dieser Nacht ihren Spitznamen bekommt; wörtlich bedeutet Gradisca „Bedienen Sie sich“. Wie geht das mit dem bisher Gesagten zusammen? Natürlich ist es eine Frage der sozialen Klasse, aber man beachte auch, wo sich diese Szene abspielt. Im Grand Hotel, denn was im Grand Hotel geschieht, bleibt auch im Grand Hotel; das verhält sich ganz wie mit Las Vegas. Das Grand Hotel und Vegas haben eines gemeinsam: Sie sind Heterotopien.
Verzeihen Sie den theoretischen Abstecher, aber Michel Foucault schreibt über ein höchst relevantes Phänomen, das er die Heterotopie nennt (wörtlich: ein anderer Ort). Das muss ich kurz einführen. Es handelt sich dabei um Räume in einer Gesellschaft, die vom Rest getrennt sind, an denen verschiedenartige Menschen und Dinge zusammenkommen und die einen transformativen Charakter haben. Das Grand Hotel passt erstaunlich gut auf jede Beschreibung von Foucault. Fellini erzählt selber vom echten Grand Hotel, wie es in seinen Augen „zugleich Istanbul, Bagdad und Hollywood“ war. Auch im Film hören und sehen wir dort allerlei Exotisches, von preussischen Generälen bis zu einem orientalischen Harem. Fellini projizierte als Junge alle möglichen Phantasien in dieses Hotel, denn dort, so sagt er, waren sie in seinen Augen möglich. Möglichmachen, was woanders undenkbar ist, ist die Hauptaufgabe von Heterotopien. Projizieren ist dabei ein gutes Stichwort, denn laut Foucault ist auch das Kino eine typische Heterotopie. Dort traut sich Titta an die ansonsten unerreichbare Gradisca auch einmal heran. Foucault betont, dass gerade Tabuthemen an diesen anderen Orten möglich werden: Ehebruch im Motel, Adoleszenz im Ferienlager. Die wichtigste Heterotopie einer Gesellschaft: das Schiff. Denn es ist ein Raum nach eigenen Regeln und gibt dem Rest der Gesellschaft die Möglichkeit, wegzugehen. Foucault schreibt: «In den Zivilisationen ohne Schiff versiegen die Träume, die Spionage ersetzt das Abenteuer und die Polizei die Freibeuter.» Denn Foucaults Theorie der Heterotopie sieht solche Ausnahme-Orte, wie man sie auch nennen könnte, als stabilisierende Orte, weil sie Ausnahmen bilden zu anderen Regeln. Sind sie weggenommen, so ist die Gesellschaft des Horizonts und der seelischen Freiheit beraubt; daran erkenne man den autoritären Charakter einer Gesellschaft. Das Grand Hotel und das Kreuzfahrtschiff Rex, die beiden zentralen Heterotopien des Films, haben unter diesem Aspekt etwas Entscheidendes im Film gemeinsam: Die Menschen von Rimini schauen nur von aussen zu und haben selber keine anderen Ausnahme-Orte. Der Historiker betont ja, er sei der einzige aus seinem Stadtteil, der je im Grand Hotel war. Die Faschisten hingegen reservieren den Zugang ins Hotel für sich. Die Jugendlichen wiederum gaffen fasziniert hinter dem Hotelzaun hinein, und der Ausflug auf die See dient nur dazu, der Rex zuzusehen, wie sie vorbeifährt. Das Schiff „Rex“ gab es übrigens tatsächlich, nur fuhr es niemals an Rimini vorbei, da es Amerika und Italien verband und somit nur an Italiens Westküste kam. Rimini liegt im Osten. Dennoch behaupteten einige Leute aus Rimini, nachdem sie den Film gesehen hatten, die Rex damals auch so beobachtet zu haben. Die Szene versinnbildlicht also, was die Leute in der italienischen Provinz verpassten: den Anschluss an so internationale und freiheitliche Räume wie das Grand Hotel oder Amerika, die weite Welt.
Was den Leuten im Film aber bleibt, ist ihre Phantasie. Sie ist zwar kein realer Raum, aber dennoch hat sie eine gewisse Macht. Gerade im Zusammenhang mit dem Hotel ist die Phantasie des Strassenverkäufers spannend. Sie vermag es, die Grenze des Hotels zu überwinden und in die ersehnte Phantasiewelt in ihm einzutauchen. Auch die Jugendlichen stellen sich in einer Szene vor, sie würden auf einen Ball im Grand Hotel gehen und tanzen dann im Nebel mit Frauen aus ihrer Vorstellung. Während des Autorennens träumt sich Titta in ein Rennauto zusammen mit der ersehnten Gradisca. Ganz ähnlich und vor allem filmisch wie emotional ein absoluter Höhepunkt ist die Phantasie des einen Jungen, die aus der faschistischen Parade eine Hochzeitsfeier mit seiner angebeteten Aldina macht. Es ist wohl der Kern des fellinesken Kinos, dass die Phantasie der einzelnen Figuren empathisch anerkannt und zelebriert wird. Ja, dass die Figuren durch diese oftmals karnevaleske Phantasie die Kontrolle über die Erzählung gewinnen und sich so über jegliche Schranken hinwegsetzen können. Gerade dadurch ist Fellini äusserst lebensnah, viel mehr als es das realistische Kino sein könnte.
Und doch: Die Phantasie kann die Realität nicht verändern. Die Menschen im Film bleiben letzten Endes frustriert, ihre Wünsche unerfüllt. Ja der Film zeigt uns karnevaleske Szenen, aber hinterher folgen immer diese melancholisch-leeren Szenen, wenn sich die Feste auflösen. Die Realität bleibt letztendlich, dass die Figuren ein sexuell wie politisch repressives Leben über sich ergehen lassen. Das Hochzeitsfest ist nur zum Teil eine Befreiung davon: Sowohl Tittas Mutter als auch Gradisca müssen nach ihrer Heirat ihre jeweilige Heimat verlassen. Anders scheint es dort nicht möglich zu sein, an Liebe zu kommen. Das Schild bei der Hochzeit von Gradisca verheisst „il paradiso“, das sie wohl woanders sucht – auch hier klingt Foucault mit seiner Theorie der Räume an.
Das Ende des Films ist dann von Abschieden und Auflösung gekennzeichnet. Gradisca war von allen begehrt und sorgte so für einen gewissen Gemeinsinn in der Stadt. Dazu sei erwähnt, dass Gradisca eine real existierende, unabhängige Frau aus einem liberalen Milieu war. Nun heiratet sie einen Carabiniere, der an der Hochzeit stolz verkündet: „Viva l’Italia!“ Am Ende des Hochzeitsfests fährt sie weg und die Kamera fährt dabei immer weiter heraus; die vielen Figuren schlendern vereinzelt durch die Landschaft und entfernen sich immer weiter voneinander. Ebenfalls ein wichtiges Bindeglied der Gesellschaft war die Familie. Die zentrale Familie im Film zerfällt mit dem Tod der Mutter. Der linke Vater und sein faschistischer Schwager haben nun keinen Grund mehr, zueinander zu halten. Nach der Bestattung sitzt der Vater zu Hause deprimiert am Tisch. Er hatte sich am Anfang des Films noch laut über die langen Gesichter am Tisch aufgeregt, jetzt ist der Tisch leer. Titta verlässt das Haus und geht ans Meer, kein Schiff holt ihn dort ab. Ihm fehlen Mutter und Gradisca. Die Frühlingsflocken, «le manine», wehen ins Bild und erinnern uns daran, was bevorsteht. Die Zeit geht weiter, der Frühling kommt, die Hexe wird wieder verbrannt werden, irgendwann danach vernichtet man auch die Juden Italiens und Menschen wie Onkel Teo, und auch Linke wie Tittas Vater. Der Karneval ist dann zu Ende und Rimini versinkt in Flammen. Übrig bleibt nur die Erinnerung, «il ricordo», und der Dialekt, in dem Fellini sagt: «Amarcord’».
Amarcord entstand gegen Ende von Fellinis Karriere und gilt als sein letzter wirklich erfolgreicher Film. Lang vorbei waren die Zeiten seiner Anfänge in Rom als Karikaturist und neorealistischer Filmemacher (La Strada, I Vitelloni). Der Neorealismus verstand sich als ein politisches Genre; er zeigte ungeschmückt schwere Schicksale in armen Milieus. Doch Fellini wandte sich mit der Zeit davon ab: Nicht mehr das harte Leben auf der «Strada», sondern lieber das süsse und sinnbefreite Leben der Elite zeigte er in La dolce vita. Mit diesem Skandal-Film hatte er linke Intellektuelle und die katholische Kirche gleichermaßen gegen sich aufgebracht. In den 60er-Jahren lernte er dann die Psychoanalyse kennen und begann mit dem Jungianer Ernst Bernhard, sich und seine Träume zu analysieren. Er machte in dieser Zeit auch einige Erfahrungen mit LSD. Seine Filme verloren darauf gänzlich den Anspruch auf Realismus und politischen Gehalt. Zuerst verarbeitete er diese kreative Neuorientierung mit dem selbstironischen Film Otto e mezzo, einer filmgewordenen Schaffenskrise, und schuf in den folgenden Jahrzehnten so irrwitzig-kunterbunte wie geistreich-geniale Werke, darunter: Giulietta degli spiriti, Il Casanova, La citta delle donne und sein Satyricon. Sein Stil wurde karnevalesk, clownesk und grotesk. Die Phantasie triumphierte über den Realismus. Er castete junge Rebellen, schräge Witzfiguren und sogar mitunter Obdachlose als Schauspieler für seine Filme. Das Kino Fellinis war ein Karneval geworden.
Zur Entstehung von Amarcord: Es trug sich gegen Ende der Sechzigerjahre zu, dass Fellini todkrank im Spital lag. Zumindest hatten ihn die dortigen Ärzte für todkrank erklärt. Fellini setzte auf «Vitamin B» und liess über seine Kontakte einen Oberarzt aus seiner Heimat anreisen. Tatsächlich stellte dieser eine deutlich mildere (und auch korrekte) Diagnose, aber wichtiger noch: Es war das erste Mal seit Jahrzehnten, dass Fellini den Romagnolo-Dialekt seiner Heimat wieder hörte. Nach der Todesangst überkam ihn stattdessen ein mächtiges Gefühl von Nostalgie. Der Begriff Nostalgie, wörtlich «Heimatsschmerz», wurde geprägt, um das Gefühl von Schweizer Söldnern zu beschreiben, die sich im Ausland nach ihrer Heimat sehnten. Während es also ursprünglich als ein rein räumliches Sehnsuchtsgefühl verstanden wurde, versteht man heutzutage darunter meist eine zeitliche Sehnsucht nach der Vergangenheit. Fellinis Nostalgie war sogar beides: Im zweiten Weltkrieg wurde seine Heimatstadt Rimini so dermassen verwüstet, dass nur 2% der Gebäude stehen blieben. Darauf wurde die Stadt mit Hilfe der Amerikaner neu aufgebaut, diesmal mit riesigen Vergnügungs-Anlagen der Küste entlang. Fellini hat Rimini insgesamt nur zweimal als Erwachsener besucht: einmal kurz nach dem Krieg und dann erst nach jenem schicksalshaften Spitalaufenthalt 20 Jahre später. Von seiner Kindheit war in Rimini nichts mehr übriggeblieben, Fellini erkannte eigentlich nur noch den Dialekt wieder, so schreibt er. Alles war neu; die Stadt war bunter und lebhafter als früher, vor allem durchmischter.
Doch wie Fellini dem Treiben im neuen Rimini zusah, fiel ihm ein unangenehmer Kontrast auf. Während die Jugend dort freisinnig, freigeistig und freizügig wirkte, fielen ihm die Alten durch ihre gewaltige Verklemmtheit auf. Eines Morgens sieht er eine junge Frau in Minirock über eine Piazza gehen. Hinter ihm grummeln zwei alte Männer etwas davon, wie provokant sich «solche Frauen» doch anziehen. Er zitiert die Männer weiter: «Packt man sie und drückt sie an die Wand, kommt sofort die Polizei. Aber wieso provozieren die dann so?». Fellini schämt sich da für seine Generation. Darüber, wie sie ihr Verlangen nur vergewaltigend imaginieren können – im besten Fall – und es im schlimmsten Fall gar genauso umsetzen. Er überlegt, wer oder was diese Männer seiner Generation denn so verkorkst werden liess. Zu seiner positiv gestimmten Nostalgie nach seinem Kindheits-Rimini gesellen sich somit auch düstere Erinnerungen.
All das verarbeitete Fellini kreativ: Dem Ergebnis gab er den Namen «Amarcord», was im Dialekt seiner Heimat «ich erinnere mich» bedeutet. Es ist Fellinis eigener Blick in eine verlorengegangene Vergangenheit; im Folgenden eine Serie von Beobachtungen und Analysen dazu.
Amarcord ist, wie ich finde, ein höchst ambivalenter Film. Die Musik lullt uns zwar ein, vermittelt den eingangs erwähnten Charme der Bella Italia, singt von positiver Nostalgie. Fellini selber verliert Zeit seines Lebens aber niemals ein einziges positives Wort über den Inhalt des Films. «Von Ablehnung und Trostlosigkeit» handle der Film ihm zufolge. Diese Ambivalenz beschränkt sich nicht nur auf Amarcord. Immer wieder lobt man Fellinis Œuvre für seinen Humanismus und seine Empathie. Gleichzeitig wird Fellini dafür kritisiert, wie abstossend und unmoralisch viele seiner Figuren sind. Das gilt auch für die heutige Kritik an seiner Darstellung von Frauen. Ein Fellini-Experte beschwert sich über ein sogenanntes «Social Justice Movement», welchem Fellini jetzt zum Opfer falle. Ich sehe das anders: In einem Gespräch meinte eine sehr engagierte, feministische Freundin von mir, mit welcher ich auch schon über moralisch fragwürdige Kunst diskutiert hatte: «Fellini? Fellini ist mein Gott.»
Wie passen diese unterschiedlichen Stimmungen und Wertungen zu Fellini? Ich habe es in der Einleitung angesprochen: Fellinis Kino ist ein Karneval. Man kann unterschiedlich auffassen, was dieses Wort bedeutet. Ich fasse es mit Hilfe des Literaturtheoretikers Mikhail Bakhtin zusammen. Karnevalesk ist, was der breiten Masse eine Stimme gibt, dergestalt dass auch die ansonsten Stimmlosen heiter hörbar sind; also sozusagen völlige Inklusion. Das Karnevaleske unterscheidet nicht, es lacht kunterbunt und widersteht jeder Kritik und Interpretation. Es ist zudem ein rebellischer Akt, es stürzt Ordnung um, aber ohne sie nachhaltig zu zerstören. Mehr noch, durch die Auflösung und Wiederherstellung der normalen Ordnung wird diese letzten Endes bestärkt. Ein Karneval ist stets ein zutiefst körperlicher, und damit menschlicher, Akt. Das Karnevaleske ist kein anhaltender Zustand, sondern ein zeitlich begrenzter Anlass, wodurch er wiederum die Zeit und das menschliche Miteinander ordnet. In Fellinis Œuvre sind Karnevale allgegenwärtig. Sie sind mitunter der Grund, wieso Fellinis Filme wenig bis keine Kernaussagen besitzen. Bakhtin schreibt auch, dass ein Karneval nicht weiter gross analysiert werden muss oder kann. In Amarcord ist der Karneval formgebend: Der Film definiert sich nicht nach der Handlung, sondern durch die Jahreszeiten und diese wiederum durch ihre Feste, also ihre Karnevals. Im Sommer ist das patriotische Fest mit Faschistenparade, im Herbst das Autorennen und im Frühling die Fogaraccia, auf der die Winterhexe verbrannt wird. Das erwachsene Leben beginnt mit dem Hochzeitsfest und endet an der Bestattung; beide Feste markieren das Ende des Films. An den Festen ist die ganze Gesellschaft versammelt, übertritt Anstandsgrenzen und ist allgemein so richtig ausgelassen und blöde. Noch blöder, als wenn die Figuren alleine auftreten.
Wobei das wiederum nicht für alle gilt. Die Bestattung ist natürlich nicht so heiter (wenngleich doch mit Rührseligkeit überzeichnet), und eine Reihe von Figuren in Amarcord ist eigentlich durchgehend speziell, nicht nur in den Karnevalsszenen: Immer sind sie wild, ungestüm, überzeichnet und übergeschnappt. Sie sind der zweite Grundpfeiler des fellinesken Kinos: Clowns. Fellini befasste sich Zeit seines Lebens mit ihnen, widmete ihnen auch einen eigenen Film. Dem märchenerzählenden Strassenverkäufer sieht man sein Dasein als Clown am ehesten noch an mit seiner roten Nase und dem bleichen Gesicht. Doch ich kann mir eine bestimmte Figurengruppe im Film nur so erklären, indem ich sie als Clowns interpretiere: Ich meine damit die Lehrer. Wie würde uns ein Clown einen Pendel erklären? «Ja, das ist wie die Uhr, tick-tack, tick-tack!» Die alkoholisierte Literaturlehrerin markiert schwierige Wörter mit ihrem debilen Sing-Sang – der Inhalt stimmt dabei hinten und vorne nicht. Wenn ein Clown über den faschistischen Geist spricht, darf der pathetisch-parodierende Donner dabei nicht fehlen. Ein anderer Lehrer-Clown spricht und rennt sich so in Rage, dass er in der Klassenzimmer-Ecke verschwindet. Und wer kennt sie nicht, die Clowns-Duos, in denen einer ständig verärgert wird vom dümmlichen Mit-Clown, der ersterem die Show vermasselt? Ich denke da an die Altgriechisch-Lektion. Die Schulsequenz sehe ich als Versuch Fellinis, traumatische Episoden seiner Schulzeit zu verarbeiten, indem er sie als eine Serie von aggressiven Clownereien darstellt. Und traumatisch sind schlechte Lehrer allemal, besonders wenn man mit ihnen im Konflikt steht. Titta, Fellinis bester Freund, erzählt: «Federico war stets ehrlich, clever und direkt. Er war das Gegenteil seiner faschistischen Lehrer.» Man versetze sich also in die Position Fellinis. Er sah zu, wie die rückständige Landbevölkerung vor seinen Augen von inkompetenten Knallchargen zum Faschismus indoktriniert wurde. In dem Moment ist das natürlich alles andere als witzig. Die Aussage eines Faschisten im Film während des Verhörs «Wir schlagen euch die Schädel ein, bis ihr endlich begreift, dass wir nur das Beste für euch wollen» ist auch nur rückwirkend betrachtet wirklich witzig; nicht in der Situation selber, in der sich Tittas Vater befindet. Wenn man mit einer nostalgischen Linse alles Bedrohliche der Faschisten herausfiltert, so bleiben eben Clowns übrig. «Später werden wir noch drüber lachen», sagt man im deutschen Volksmund in besonders unangenehmen Situationen. Das trifft auf Fellinis Umgang mit seinen Traumata völlig zu. Darum sehen wir im Film Mobbing, sexuelle Übergriffe, politische Repression und sogar Folter, ohne den emotionalen Gehalt, der ansonsten diese Dinge begleitet. Vielleicht wirkt dadurch Fellini manchmal unangebracht und moralisch grenzwertig. Doch seine Schaffensart ist, finde ich, unsterblich: Auch uns könnte es gut tun, Aktuelles Geschehen, aktuelle Ideen, wie einen Zirkus voller Clowns zu rezipieren.
Weniger clever als es Fellini wohl war, aber umso direkter, ist die Rebellion der Schüler gegen die Lehrer. Mit Fäkalhumor stinken sie gegen die Ordnung des Schulalltags an, mit Furzgeräuschen gegen Altgriechisch, mit echten Fäkalien gegen Algebra. Nichts entschärft faschistischen Pathos eben besser als die karnale Unrühmlichkeit des menschlichen Körpers, fein ausgedrückt. Etwas haben im Film die Kinder und die Faschisten allerdings gemeinsam. Die Schulsequenz beginnt mit einer Horde von Kindern, die um die Ecke stürmt. Der autoritäre Schulrektor bremst sie grollend aus. Die Faschisten kommen ebenso um eine Ecke gerannt. Sie bleiben hingegen ungebremst. Im Gegenteil, sie wirbeln beim Rennen eine Nebelwolke auf und die Leute laufen benebelt hinterher. Körperlich ist die Parade ebenfalls: Nicht nur durch körperliche Betätigung, sondern auch durch Schwärmerei vom Körper des Duce und durch die Geschlechtssymbolik, wenn die Mädchen ihre Reifen und die Jungs ihre Gewehre emporrecken. Und überhaupt, die faschistische Parade schliesst an die Masturbationsszene im Auto an. Fellini macht hier offensichtlich, was Wilhelm Reich in seinem Text über die Massenpsychologie des Faschismus schon früh erkannte:
Der Faschismus ist zugleich sexuell geladen und sexuell repressiv. Laut Reich speise sich der Faschismus aus einem Rebellentum, was unter anderem nötig mache, dass der Faschismus sexuelle Frustration fördert, insbesondere bei jungen Männern – ich erkenne diese Dynamik im heutigen Internet häufig wieder. Die Ausgleichs-Aktivitäten für den faschistischen Menschen wie die soldatenhafte Brüderlichkeit und ebenjene Paraden bekommen damit ihren erotischen Touch und Rhythmus. Das bekommen wir zu spüren, indem fast jede Szene des Films starke sexuelle Komponenten hat, wir aber keine einzige gesunde und erfüllte Sexualität zu sehen bekommen. Eindrücklich ist da die Szene, in der die Kutsche mit Prostituierten durch die Promenade fährt. Es ertönt die Melodie «La cucaracha», dabei zeigt die Kamera in einer gleitenden Einstellung einen Querschnitt der Gesellschaft, die zugleich vom Anblick betört ist und der Kutsche doch fernbleiben muss. Wie man in dieser Szene an den Kruzifixen im Hintergrund sehen kann, die noch lange ins Fade-Out leuchten, spielt die katholische Kirche für jene Frustrationsdynamik eine zentrale Rolle. Sehr schnell kommt der Priester bei der Beichte der Jungs auf die Masturbation zu sprechen. Doch auch hier widersetzen sich die Jugendlichen dem starken Arm der Autorität: Wir bekommen in dieser Szene Einsicht in ihre gemeinsamen Ausflüge an das Siegesdenkmal oder den Bauernmarkt, beide in fellinesker Façon gewidmet der Bewunderung von Gesässen. Nicht zuletzt auch ihr Treffen im Auto, um sich bei der Selbstbefriedigung gegenseitig ihre Sexualobjekte mitzuteilen. Der Kirche gelingt also die Dämonisierung der Masturbation im Film nicht, sie erreicht aber durch den Versuch ihr eigentliches Ziel: den Sinn für Gemeinschaft herzustellen. Die Jugendlichen zelebrieren ihre Gemeinschaft in der Sünde. Und dennoch: Ihre Sexualität bleibt buchstäblich auto-erotisch.
Der arme Onkel Teo treibt es mit seiner Frustration, wiederum buchstäblich, auf die Spitze. «Voglio una donna!» – er schreit heraus, was alle anderen im Film denken und fühlen. Doch gerade er hat noch viel weniger Aussichten auf Liebe und Erotik im Leben. Interessant ist dabei, dass Fellinis Vater auf einem solchen Bauernhof aufwuchs und dass Fellini sich auf diese Szene beruft, um Amarcord als „Film voller Ablehnung“ zu bezeichnen. Beinahe beängstigend wirkt dann das dümmliche Bauernkind, das sich auf einen Esel glotzend selber schlägt, sowie der Junge, der sein kleines Geschwisterlein in der Wiege ermorden will. Irgendwie passt auch Onkel Teo mit seiner verzweifelten Rebellion auf den väterlichen Bauernhof; wir sehen den Vater ja auch völlig resignieren. Teo mag wahnwitzig wirken, doch herrscht ein interessanter Kontrast zwischen ihm und dem deutschen Adligen, der das Grand Hotel besucht („Il Principe“). Beide vogliono una donna, der Prinz muss das allerdings nicht sagen. Mehr noch, er bekommt direkt eine Frau offeriert: die Gradisca, die in dieser Nacht ihren Spitznamen bekommt; wörtlich bedeutet Gradisca „Bedienen Sie sich“. Wie geht das mit dem bisher Gesagten zusammen? Natürlich ist es eine Frage der sozialen Klasse, aber man beachte auch, wo sich diese Szene abspielt. Im Grand Hotel, denn was im Grand Hotel geschieht, bleibt auch im Grand Hotel; das verhält sich ganz wie mit Las Vegas. Das Grand Hotel und Vegas haben eines gemeinsam: Sie sind Heterotopien.
Verzeihen Sie den theoretischen Abstecher, aber Michel Foucault schreibt über ein höchst relevantes Phänomen, das er die Heterotopie nennt (wörtlich: ein anderer Ort). Das muss ich kurz einführen. Es handelt sich dabei um Räume in einer Gesellschaft, die vom Rest getrennt sind, an denen verschiedenartige Menschen und Dinge zusammenkommen und die einen transformativen Charakter haben. Das Grand Hotel passt erstaunlich gut auf jede Beschreibung von Foucault. Fellini erzählt selber vom echten Grand Hotel, wie es in seinen Augen „zugleich Istanbul, Bagdad und Hollywood“ war. Auch im Film hören und sehen wir dort allerlei Exotisches, von preussischen Generälen bis zu einem orientalischen Harem. Fellini projizierte als Junge alle möglichen Phantasien in dieses Hotel, denn dort, so sagt er, waren sie in seinen Augen möglich. Möglichmachen, was woanders undenkbar ist, ist die Hauptaufgabe von Heterotopien. Projizieren ist dabei ein gutes Stichwort, denn laut Foucault ist auch das Kino eine typische Heterotopie. Dort traut sich Titta an die ansonsten unerreichbare Gradisca auch einmal heran. Foucault betont, dass gerade Tabuthemen an diesen anderen Orten möglich werden: Ehebruch im Motel, Adoleszenz im Ferienlager. Die wichtigste Heterotopie einer Gesellschaft: das Schiff. Denn es ist ein Raum nach eigenen Regeln und gibt dem Rest der Gesellschaft die Möglichkeit, wegzugehen. Foucault schreibt: «In den Zivilisationen ohne Schiff versiegen die Träume, die Spionage ersetzt das Abenteuer und die Polizei die Freibeuter.» Denn Foucaults Theorie der Heterotopie sieht solche Ausnahme-Orte, wie man sie auch nennen könnte, als stabilisierende Orte, weil sie Ausnahmen bilden zu anderen Regeln. Sind sie weggenommen, so ist die Gesellschaft des Horizonts und der seelischen Freiheit beraubt; daran erkenne man den autoritären Charakter einer Gesellschaft. Das Grand Hotel und das Kreuzfahrtschiff Rex, die beiden zentralen Heterotopien des Films, haben unter diesem Aspekt etwas Entscheidendes im Film gemeinsam: Die Menschen von Rimini schauen nur von aussen zu und haben selber keine anderen Ausnahme-Orte. Der Historiker betont ja, er sei der einzige aus seinem Stadtteil, der je im Grand Hotel war. Die Faschisten hingegen reservieren den Zugang ins Hotel für sich. Die Jugendlichen wiederum gaffen fasziniert hinter dem Hotelzaun hinein, und der Ausflug auf die See dient nur dazu, der Rex zuzusehen, wie sie vorbeifährt. Das Schiff „Rex“ gab es übrigens tatsächlich, nur fuhr es niemals an Rimini vorbei, da es Amerika und Italien verband und somit nur an Italiens Westküste kam. Rimini liegt im Osten. Dennoch behaupteten einige Leute aus Rimini, nachdem sie den Film gesehen hatten, die Rex damals auch so beobachtet zu haben. Die Szene versinnbildlicht also, was die Leute in der italienischen Provinz verpassten: den Anschluss an so internationale und freiheitliche Räume wie das Grand Hotel oder Amerika, die weite Welt.
Was den Leuten im Film aber bleibt, ist ihre Phantasie. Sie ist zwar kein realer Raum, aber dennoch hat sie eine gewisse Macht. Gerade im Zusammenhang mit dem Hotel ist die Phantasie des Strassenverkäufers spannend. Sie vermag es, die Grenze des Hotels zu überwinden und in die ersehnte Phantasiewelt in ihm einzutauchen. Auch die Jugendlichen stellen sich in einer Szene vor, sie würden auf einen Ball im Grand Hotel gehen und tanzen dann im Nebel mit Frauen aus ihrer Vorstellung. Während des Autorennens träumt sich Titta in ein Rennauto zusammen mit der ersehnten Gradisca. Ganz ähnlich und vor allem filmisch wie emotional ein absoluter Höhepunkt ist die Phantasie des einen Jungen, die aus der faschistischen Parade eine Hochzeitsfeier mit seiner angebeteten Aldina macht. Es ist wohl der Kern des fellinesken Kinos, dass die Phantasie der einzelnen Figuren empathisch anerkannt und zelebriert wird. Ja, dass die Figuren durch diese oftmals karnevaleske Phantasie die Kontrolle über die Erzählung gewinnen und sich so über jegliche Schranken hinwegsetzen können. Gerade dadurch ist Fellini äusserst lebensnah, viel mehr als es das realistische Kino sein könnte.
Und doch: Die Phantasie kann die Realität nicht verändern. Die Menschen im Film bleiben letzten Endes frustriert, ihre Wünsche unerfüllt. Ja der Film zeigt uns karnevaleske Szenen, aber hinterher folgen immer diese melancholisch-leeren Szenen, wenn sich die Feste auflösen. Die Realität bleibt letztendlich, dass die Figuren ein sexuell wie politisch repressives Leben über sich ergehen lassen. Das Hochzeitsfest ist nur zum Teil eine Befreiung davon: Sowohl Tittas Mutter als auch Gradisca müssen nach ihrer Heirat ihre jeweilige Heimat verlassen. Anders scheint es dort nicht möglich zu sein, an Liebe zu kommen. Das Schild bei der Hochzeit von Gradisca verheisst „il paradiso“, das sie wohl woanders sucht – auch hier klingt Foucault mit seiner Theorie der Räume an.
Das Ende des Films ist dann von Abschieden und Auflösung gekennzeichnet. Gradisca war von allen begehrt und sorgte so für einen gewissen Gemeinsinn in der Stadt. Dazu sei erwähnt, dass Gradisca eine real existierende, unabhängige Frau aus einem liberalen Milieu war. Nun heiratet sie einen Carabiniere, der an der Hochzeit stolz verkündet: „Viva l’Italia!“ Am Ende des Hochzeitsfests fährt sie weg und die Kamera fährt dabei immer weiter heraus; die vielen Figuren schlendern vereinzelt durch die Landschaft und entfernen sich immer weiter voneinander. Ebenfalls ein wichtiges Bindeglied der Gesellschaft war die Familie. Die zentrale Familie im Film zerfällt mit dem Tod der Mutter. Der linke Vater und sein faschistischer Schwager haben nun keinen Grund mehr, zueinander zu halten. Nach der Bestattung sitzt der Vater zu Hause deprimiert am Tisch. Er hatte sich am Anfang des Films noch laut über die langen Gesichter am Tisch aufgeregt, jetzt ist der Tisch leer. Titta verlässt das Haus und geht ans Meer, kein Schiff holt ihn dort ab. Ihm fehlen Mutter und Gradisca. Die Frühlingsflocken, «le manine», wehen ins Bild und erinnern uns daran, was bevorsteht. Die Zeit geht weiter, der Frühling kommt, die Hexe wird wieder verbrannt werden, irgendwann danach vernichtet man auch die Juden Italiens und Menschen wie Onkel Teo, und auch Linke wie Tittas Vater. Der Karneval ist dann zu Ende und Rimini versinkt in Flammen. Übrig bleibt nur die Erinnerung, «il ricordo», und der Dialekt, in dem Fellini sagt: «Amarcord’».